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Stolz und Abstand. Eine Pride-Veranstaltung in New York.

© Lucas Jackson/REUTERS

Pride-Saison der queeren Community: Sichtbar bleiben in der Pandemie

Warum die Krise für die queere Szene besonders bedrohlich ist – und wie sie gegensteuert. Ein Essay zum Christopher Street Day.

Der Südblock in Berlin-Kreuzberg ist seit einigen Wochen wieder geöffnet. Das Café mit Speiseangebot hat seine große Freifläche direkt am Kottbusser Tor mit einem Plastikzaun eingefasst, sodass am Eingang geregelt werden kann, wie viele Leute gleichzeitig auf dem Areal sind.

Alle Ankommenden werden gebeten, ihre Adresse zu hinterlassen und Masken zu tragen, wenn sie nicht am Platz sitzen. Überhaupt wird hier genau auf Abstand und Hygiene geachtet – im Pandemie-Berlin keineswegs Standard.

Das Südblock-Publikum nimmt das Konzept an und wartet mitunter sogar wie vor einem Club in kleinen Schlangen. Erst wenn Gäste gehen, können neue hinein.

Dass das so gut funktioniert, dürfte zu einem großen Teil daran liegen, dass vor allem queere Menschen hierher kommen – und dankbar dafür sind, endlich an einen ihrer Treffpunkte zurückkehren zu können. Viele andere Orte – namentlich die Clubs – sind weiterhin nicht oder nur beschränkt zugänglich.

Nicht alle Clubs überstehen die Krise

Und es ist nicht ausgemacht, dass alle die Krise überstehen werden. Das gilt auch für weitere LGBTI-Projekte und Beratungsstellen.

Eine durchaus bedrohliche Situation für die Szene, denn ihre Infrastruktur verfügt nicht über Netz und doppelten Boden. Müsste etwa eine Club-Institution wie das Schwuz dichtmachen, gäbe es auf absehbare Zeit keinen gleichwertigen Ersatz. Auch ein Magazin wie die „Siegessäule“, das sich gerade mit einer Spendenkampagne etwas Luft verschafft hat, ist einmalig in der Stadt. Verschwände sie, wäre die Lücke kaum zu schließen.

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Dabei steht weit mehr als Unterhaltung, Gastronomie und Spaß auf dem Spiel. Für Queers, die im Unterschied zu den Angehörigen anderer Minderheiten auch in ihren Familien eine Minderheit bilden, sind Läden wie der Südblock identitätsstiftende Orte, Inseln im Meer der Heteronormativiät. Hier können sie sich vernetzen, entspannen und an der Gegenwart anderer lesbischer, schwuler oder trans Menschen erfreuen.

Das ist wahrlich keine Petitesse, wenn man bedenkt, dass in Deutschland 40 Prozent der LGBTI-Personen nicht offen mit ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität umgehen.

Kein Wunder: Bei einer deutschen Studie gab die Hälfte der Befragten an, sich in der Gegenwart von trans Menschen unwohl zu fühlen. 40 Prozent fanden es unangenehm, wenn sich gleichgeschlechtliche Paare in der Öffentlichkeit küssen. „Schwul“ wird genau wie „Lesbe“ immer noch vielfach als Schimpfwort gebraucht. Zudem steigt die Zahl der gewalttätigen Übergriffe gegen trans Personen und Homosexuelle.

Minderheitenstress und höhere Selbstmordrate

Obwohl sich die rechtliche und gesellschaftliche Emanzipation der nicht-heterosexuellen Bevölkerung auf einem historischen Höchststand befindet, ist ihre Stigmatisierung längst nicht beendet. Das führt zu einem Phänomen, das der US-Forscher Ilan H. Meyer mit dem Begriff Minderheitenstress beschrieben hat. Dazu tragen einerseits direkte Diskriminierungserfahrungen bei, andererseits die Erwartung solcher Erfahrungen.

Hinzu kommt, dass negative gesellschaftliche Einstellungen zur Homo- oder Transsexualität häufig verinnerlicht werden. Für Jugendliche, die sich auf dem Schulhof ständig mit abfälligen Kommentaren zu diesen Themen konfrontiert sehen, ist es ungemein schwierig, eine selbstbewusste queere Identität zu entwickeln. Da mag es im Internet noch so viele Möglichkeiten geben, andere Stimmen zu hören, die Vorurteile und der Hass lassen sich nicht einfach ausblenden.

Ein erschreckender Beleg für die daraus resultierende Verzweiflung ist das vier- bis sechsfach höhere Suizidrisiko von homosexuellen gegenüber heterosexuellen Jugendlichen.

Schwierige Abwägung: outen oder nicht?

Doch auch viele schwule, lesbische und trans Erwachsene kennen das Gefühl der Verletzlichkeit, Scham und Zurückhaltung, wenn es um ihre Identität geht. Je nach Situation beginnt ein kraftraubendes Kopfkino: Ist mein Gegenüber aufgeschlossen, wenn ich mich oute? Was steht auf dem Spiel, wenn nicht? Halte ich möglicherweise komische Fragen aus?

Vor allem in Arbeitszusammenhängen kann das eine Abwägung sein, die Menschen unter extremen Druck setzt – zumal, wenn noch andere potenzielle Diskriminierungsfaktoren hinzukommen, etwa wenn jemand nicht weiß ist.

Mehrheitsangehörigen mögen solche Dinge abwegig und überempfindlich erscheinen, doch ihnen fehlt die Erfahrung, wie es sie anfühlt, als „anders“ exponiert zu sein. Unbewusst können sie überdies zu einem Klima beitragen, in dem sich Minderheitsangehörige nicht gut aufgehoben fühlen.

Etwa, wenn automatisch von der Heterosexualität aller Anwesenden ausgegangen wird oder heterosexuell konnotierte Scherze gemacht werden. Nachvollziehbar, dass ein Drittel der homosexuellen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland seine Orientierung am Arbeitsplatz lieber geheim hält.

Ohne Kampf keine Emanzipation

Ein traurig hoher Prozentsatz für ein Land, das sich gern als offen, tolerant und modern präsentiert. Vielleicht ist es aber auch angemessen für ein Land, das es in 71 Jahren nicht geschafft hat, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität im Antidiskriminierungsparagrafen (§3) seines Grundgesetzes zu vermerken.

Ein Land, das seit Jahren keine Reform des Transsexuellen-Rechtes zustande bringt, das beim Adoptionsrecht kürzlich die Schikanen für lesbische Mütter erhöht hat und schwule Männer beim Blutspenden diskriminiert.

Der LGBTI-Community ist bewusst, dass sich an all diesen Punkten nur dann etwas ändert, wenn sie selbst dafür eintritt. Seit Magnus Hirschfelds Zeiten wurde nahezu jede Verbesserung erkämpft, kein Gleichstellungsschritt war leicht. Das ewige Ringen um die hierzulande erst 2017 eingeführte Ehe für alle ist dafür das offenkundigste Beispiel.

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Weil Minderheiten verstanden haben, dass ihre Rechte keine Selbstverständlichkeit sind, organisieren sie sich, werden auch persönlich sichtbar und hörbar. Diese Praxis wird seit einiger Zeit unter dem Rubrum der „Identitätspolitik“ angegriffen und als sektiererisches Befindlichkeitsgetue diskreditiert, bei dem lediglich das Wohl der eigenen Gruppe im Fokus steht, größere – vor allem ökonomische – Zusammenhänge aber übersehen werden.

Dabei lassen die Kritiker sowohl Mehrfachdiskriminierungen als auch intersektionale Bemühungen außer Acht und übersehen, dass es auch eine Form der Identitätspolitik ist, eine weiß-cis-heterosexuelle Perspektive zum Standard zu erheben.

Vor allem aber mangelt es ihnen an einem Verständnis dafür, dass ohne identitätspolitische Bemühungen keine Emanzipation zu erreichen ist. Wie soll Diskriminierung denn angesprochen und aufgebrochen werden, wenn nicht durch die Marginalisierten selbst? Herr Seehofer wird es ja wohl kaum für sie richten.

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Die Queers in Deutschland können zwar froh sein, dass hier keine Zustände herrschen wie in Polen, wo die LGBTI-feindliche Politik derzeit grauenvolle Blüten treibt und sich im aktuellen Wahlkampf sogar Präsident Duda durch hetzerische Äußerungen hervortut, doch zurücklehnen kann man sich auch bei uns keineswegs – schon allein angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Kräfte nicht.

Viele Prides wurden in Internet verlegt

Es ist deshalb äußerst misslich (wenn auch absolut verständlich), dass aufgrund der Pandemie alle großen Straßenparaden zum Christopher Street Day abgesagt werden mussten. Zwar wird stattdessen vieles online stattfinden. Doch ist das kein Vergleich zu den riesigen regenbogenfarbenen Ausrufezeichen, die normalerweise im Sommer in den deutschen Innenstädten gesetzt werden.

Nachdem der Berliner CSD seine Verlegung ins Internet bekannt gegeben hatte, gab es denn auch lautstarke Kritik. Der bekannte Blogger und Autor Johannes Kram schrieb unter der Überschrift „Ein digitaler CSD ist kein CSD!“: „Auf dem CSD geht es darum, sich zu zeigen. Sich so zu zeigen. Sich im wahrsten Sinne zu verorten. Das unbeschreibliche Gefühl, gemeinsam zu erleben, was wir sonst nie erleben können: Mehrheit zu sein.“

Genauso sieht es „Siegessäule“-Verlegerin Manuela Kay in der aktuellen Ausgabe des Magazins: „Das Wesen unseres Prides ist es, sich öffentlichen Raum anzueignen, in dem wir so oft nicht wahrgenommen oder aus dem wir verdrängt werden.“

In Berlin gibt es eine Demonstration

In etwas kleinerem Rahmen wird das in Berlin an diesem Sonnabend doch noch möglich sein, denn das Team um den jungen Aktivisten Nasser El-Ahmad hat unter dem Motto „Save Our Pride, Save Our Community“ eine Demonstration vom Nollendorf- zum Alexanderplatz angemeldet.

Rund 1000 Leute werden erwartet, es soll nur zwei Trucks geben und auf Abstand geachtet werden. El-Ahmad will keine Party, sondern Politik. Im Tagesspiegel-Interview hat er gesagt: „Nur weil es eine Coronapandemie gibt, haben Homo- und Transfeindlichkeit keine Pause eingelegt. Daher müssen wir auch draußen sichtbar sein.“

Sichtbar für die Mehrheit, aber auch füreinander – ein Empowerment-Moment, in dem sich die Community mit Energie aufladen kann, um die nächsten Pandemiemonate zu überstehen. Und irgendwann gibt’s dann hoffentlich ein Wiedersehen auf dem Dancefloor und an der Theke.

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