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Aktionstag gegen Homophobie, am 17. Mai 2017 in Berlin.

© imago/IPON

Hasskriminalität gegen Schwule und Lesben: Mehr homofeindliche Straftaten in Berlin angezeigt

In der Berliner Staatsanwaltschaft verfolgt eine Spezialabteilung homophobe Hasskriminalität. Seit Jahren steigen die Zahlen.

Von Ronja Ringelstein

Er saß in der S-Bahn, es ist ein paar Jahre her, mit dabei hatte er eine Tasche, die mit zwei Stickern versehen war. Die Regenbogenflagge und das grüne S-Bahn-Zeichen. Womöglich hat er den jungen Mann gegenüber etwas „zu lange“ angeschaut? Jedenfalls schlug ihm dieser junge Mann, bevor er die S-Bahn verließ, mit voller Wucht ins Gesicht. Warum war das passiert? Das fragten auch die herbeigerufenen Beamten der Bundespolizei den Betroffenen später. Vielleicht wegen des Regenbogen-Stickers, vielleicht war der Täter homophob, sagte er.

Die Regenbogenfahne steht seit Ender der 1970er Jahren symbolisch für die Schwulen- und Lesbenbewegung. Einer der Beamten entgegnete: „Vielleicht hatte der Täter ja auch etwas gegen ihren S-Bahn-Sticker“. Der Fall wurde als eine „normale“ Körperverletzung eingestuft. Es sind Geschichten wie diese, die Betroffene erzählen, die ihr Misstrauen in die Polizei begründen, ihre Angst, sich an die Behörden zu wenden, wenn ihnen schwulen-, lesben- oder transfeindlich begegnet wird.

Die Zahlen steigen, das Dunkelfeld ist groß

Indes sind die Strafanzeigen in Berlin wegen Hasskriminalität gegen LSBTI-Personen seit 2016 konstant angestiegen – da waren es noch 153, im vergangenen Jahr waren es 331. Die Abkürzung LSBTI steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen.

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Seit einigen Jahren versuchen die Berliner Strafverfolgungsbehörden eine neue Ansprache, natürlich einerseits, um die Täter zu ermitteln, mit ihrer Tat zu konfrontieren und zu bestrafen – aber auch, um Vertrauen der Betroffenen zurückzugewinnen. 2012 wurde die Spezialeinheit bei der Staatsanwaltschaft – Abteilung 284 – gebildet, die homo- und transfeindliche Kriminalität gesondert verfolgt.

Immer ansprechbar. Oberstaatsanwältin Ines Karl und ihr Stellvertreter Staatsanwalt Markus Oswald kümmern sich in der Berliner Justiz um die Verfolgung homophober Straftaten.

© Thilo Rückeis

Inzwischen umfasst sie elf Dezernenten und eine Abteilungsleiterin. „Das ist deutschlandweit einzigartig“, betonte der Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) bei einem Seminar in der Justizverwaltung, das sich an Richterinnen und Staatsanwälte richtete. Mit solchen Seminaren sollen die Kollegen in der Justiz auf das Thema noch mehr sensibilisiert werden. Die Zusammenarbeit mit dem Landeskriminalamt ist eng und auch dort gibt es spezielle Ansprechpartner.

Die Spezialabteilung sucht die Nähe zu den Betroffenen

Die Zahlen steigen an – sind es also mehr Fälle als zuvor? Oder werden sie nur besser erkannt und erfasst? Beides ist möglich, glaubt der Staatsanwalt Markus Oswald. Oswald hatte das Fortbildungsseminar eingeleitet. Er arbeitet in der Spezialabteilung unter Oberstaatsanwältin Ines Karl und wirbt bundesweit und international mit Veranstaltungen für das Modell, alle homo- und transfeindlichen Fälle in der Strafverfolgung gesondert zu behandeln.

Justizia im Regenbogen: Das Zeichen der Spezialabteilung 284 der Staatsanwaltschaft Berlin, die gegen Hasskriminalität gegen LSBTI-Personen ermittelt.

© promo

Die Abteilung gehe konzentriert – alle Fälle dieser Hasskriminalität werden in der 284 behandelt – spezialisisert und opferorientiert vor, erklärt Oswald. Letzteres kennzeichnet sich etwa dadurch, dass die Nähe der Staatsanwältinnen und -anwälte zu den Opfern sehr viel größer ist als in anderen Abteilungen.

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Ist noch ein Antrag nötig, damit die Straftat überhaupt verfolgt werden kann, gehört es zum Standardprozedere, zum Telefonhörer zu greifen und das Opfer daran zu erinnern, dass die Antragsfrist bald ausläuft. Über 70 Prozent der Delikte gegen LSBTI-Personen 2019 waren Beleidigungen – die wird ausschließlich auf Antrag verfolgt, ohne Antrag muss die Staatsanwaltschaft einstellen. Deshalb die Erinnerungen – oder auch: Ermutigungen. „Wir bekommen positives Feedback aus der Community, von Leuten, die uns sagen, danke, dass es euch gibt, ich hätte sonst nie Anzeige erstattet“, sagt Staatsanwaltschaft Oswald. Denn die Betroffenen können auch direkt mit Ansprechpersonen der Abteilung 284 sprechen, direkt dort Anzeige erstatten, ohne über die Polizei zu gehen.

Öffentlichkeitsfahndung wegen Sachbeschädigung? Auch möglich!

Über 25 Prozent der Delikte waren Körperverletzungen. Die einfache Körperverletzung ist ein „relativen Antragsdelikt“, das heißt, wenn kein Antrag des Opfers vorliegt, kann die Staatsanwaltschaft die Sache trotzdem verfolgen, wenn sie ein „öffentliches Interesse“ bejaht – das macht die Spezialabteilung bei LSBTI-Fällen immer. Und auch andere Maßnahmen sind denkbar: Nachdem das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Tiergarten beschädigt wurde, hatte die Spezialabteilung das Foto des Täters veröffentlicht und nach ihm gesucht. Das mag auf dem Papier eine Öffentlichkeitsfahndung wegen Sachbeschädigung sein, klingt nach Kanonen auf Spatzen.

Doch, wie Oswald erklärt, steht doch mehr hinter dem Beschmieren von diesem Denkmal. Das sei eben keine einfache Sachbeschädigung.
Allerdings sei das Dunkelfeld sehr groß, glauben die Behörden. „Wir wissen, dass nicht sämtliche Fälle gemeldet werden“, sagt Oswald. Das Anti-Gewalt-Projekt „Maneo“ führt ebenfalls Statistik und verzeichnete im Jahr 2018 382 Fälle von Hasskriminalität gegen LSBTI-Personen – 121 mehr als die Berliner Staatsanwaltschaft. In der Kriminalstatistik der Bundesregierung wurden 2018 hingegen 313 Fälle von Straftaten gegen Lesben, Schwule, Trans- und Intersexuelle gezählt – im gesamten Bundesgebiet. Dass die Zahlen also nur beding Aussagekraft haben, liegt auf der Hand.

Maneo ist aus der Verfolgungsgeschichte entstanden

In der Berliner Staatsanwaltschaft geht man davon aus, dass Maneo schlicht mehr Fälle angezeigt werden. Das Projekt ist aus der jahrzehntelangen Verfolgungsgeschichte der Schwulen und Lesben entstanden, die Mitarbeiter dort hätten häufig ähnliche Erlebnisse gehabt, das könne Ängste und Scham nehmen, sagt Bastian Finke, Leiter von Maneo. Er erzählte bei dem Seminar auch die Geschichte von dem Mann mit dem Regenbogensticker auf seiner Tasche. „Der Betroffene war über die Aussage der Polizei in höchstem Maße irritiert, kam zu uns und beschwerte sich.“ Erst durch Maneo wurde der Fall dann als ein solcher verfolgt, der er war: Ein Fall von Hasskriminalität gegen einen Mann, weil dieser schwul war.

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