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Am sechsten Weihnachten sollte alles anders werden, hoffte Simon.

© Frank Rumpenhorst/dpa

Eine queere Liebe in Coronazeiten: Weihnachten mit Wikinger

Sich zu Weihnachten in der Heimat mit alten Schulfreunden treffen? Das fällt aus. Dennoch soll es für Simon ein besonderes Fest werden. Eine Kurzgeschichte.

Julian Mars ist Autor der Romane "Jetzt sind wir jung" und "Lass uns von hier verschwinden" - zwei Werke, die sich sehr authentisch und schwungvoll damit auseinandersetzen, wie es ist, heute ein ein junger schwuler Mann zu sein. Wir veröffentlichen hier seine neue Kurzgeschichte "Weihnachten mit Wikinger".

Simons Finger waren längst steif vor Kälte, als er endlich sein Handy wegsteckte. Er seufzte, denn das Nachrichtenlesen hatte ihn wenigstens abgelenkt. Missmutig wischte er sich eine Schneeflocke von der Nase und starrte über die Straße auf das verlassene Gisela-Eck.

Es in der Nacht vor Heiligabend geschlossen zu sehen, fühlte sich seltsam an. Doch was war in diesem Jahr schon normal? Er stand auf und ging ein paar Schritte vor der Haltestelle auf und ab, wo er seit fast zwei Stunden gesessen und nicht auf den Bus gewartet hatte, sondern auf sein ganz persönliches Weihnachtswunder.

„Bescheuert“, murmelte er, als er hörte, wie die Rathausglocke zehn Uhr schlug. Denn eigentlich war doch längst klar, dass er nicht mehr auftauchen würde. Aber Simon würde trotzdem noch nicht nach Hause gehen und sich mit einem Tee auf die Heizung setzen. Denn er hatte ihm versprochen, dass er heute hier sein würde. Und er hatte trotz allem vor, sein Versprechen zu halten.

Der Fahrer vor Giselas Kneipe

Als er sich gerade wieder auf die kalte Metallbank setzte, bog ein schwarzes Auto in die Straße, und Simons Herz schlug auf einmal viel lauter. Nervös sah er dabei zu, wie der Wagen vor Giselas Kneipe parkte. Er hielt die Luft an, als sich die Fahrertür öffnete. Und er atmete heftig aus, als er endlich erkannte, wer da ausstieg und sich suchend umsah.

„Danke!“, flüsterte er. Seine Finger waren noch steif, doch seine Knie auf einmal ganz weich, als er aufstand und sich die Kapuze vom Kopf zog. Und weil ihm jetzt erst einfiel, dass er sich zwar so lange auf diesen Moment gefreut, sich in der ganzen Zeit aber keine passende Begrüßung überlegt hatte, rief er einfach nur: „Hier bin ich.“

*****

Das Gisela-Eck kannte jeder. Wer im Umkreis von 50 Kilometern jung war und am Wochenende was erleben wollte, nahm den Zug in die einzige erreichbare Stadt in der Gegend. Doch weil die letzten Bahnen schon um kurz nach elf wieder zurückfuhren, musste man entweder sehr früh nach Hause. Oder sehr lange aufbleiben. Und wenn gegen vier die letzte Disco schloss, gab es nur noch Gisela.

Ab halb sechs nur noch Cola und Kaffee

Mit siebzehn hatten Simon und seine Freunde zum ersten Mal miterlebt, wie die Chefin persönlich ab fünf Uhr Reibekuchen servierte und ab halb sechs nur noch Cola und Kaffee. Von da an waren sie fast jede Woche dort.

Nach dem Abitur waren seine Freunde weggezogen. Doch zu Weihnachten kamen alle zurück. Und weil keiner eine bessere Idee hatte, wo man am 23. zu zwölft einen Abend verbringen konnte, von dem keiner wusste, wann er zu Ende sein würde, trafen sie sich bei Gisela.

Das Gisela-Eck war viel größer, als es von außen wirkte. Es gab mehrere Räume, ein paar Treppen, alte Sofas und kein Rauchverbot, denn Gisela war nicht die Sorte Mensch, die Angst vor dem Ordnungsamt hatte. Trotz der Größe war es bei ihrem ersten Weihnachtstreffen komplett voll gewesen. Denn offenbar hatten sich alle diesen Ort ausgesucht, um mit alten Freunden in der Vergangenheit zu schwelgen, die Gegenwart zu feiern und auf die Zukunft zu trinken.

Als er ihn zum ersten Mal sah

An dem Abend sah Simon ihn zum ersten Mal. Den großen Blonden, der mit seinen Freunden zwei Sitzgruppen weiter saß. Simon vergaß fast zu atmen, als er ihn bemerkte, und er musste sich zwingen, nicht allzu offensichtlich zu ihm rüber zu starren.

Also fixierte er die bunte Lichterkette in Giselas Fenster und beobachtete den Kerl aus dem Augenwinkel. Er sah unglaublich gut aus, wie ein Großstadt-Wikinger. Doch es war vor allem seine Ausstrahlung, die Simon so anzog. Selbstsicher, aber nicht arrogant. Dazu die freundlichen Augen. Die Lippen, die immer zu lächeln schienen. Die Art, wie er den anderen zuhörte, wenn sie was erzählten. Das breite Kreuz. Das Grübchen an seinem Kinn. Und der Rest eigentlich auch. Das war Jahr eins.

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In Jahr zwei überlegte Simon lange, was er anziehen sollte, obwohl er keine Ahnung hatte, ob er überhaupt wieder da sein würde. Doch er war da. Und er trug einen kurzen Vollbart, mit dem er noch viel mehr wie ein Wikinger aussah. Während Simons Freunde sich über das vergangene Jahr unterhielten, fragte er sich, was der Blonde wohl alles erlebt hatte. Und er verschluckte sich heftig an seinem Bier, als der ihn beim Glotzen ertappte und plötzlich zurück starrte. Danach schaute Simon für den Rest des Abends auf den Boden.

Das dritte Jahr - beschissen

Im dritten Jahr kaufte er sich neue Klamotten, nur um dann festzustellen, dass zwar die Freunde des Wikingers wieder bei Gisela waren, er selbst jedoch fehlte. Es war ein beschissenes Weihnachten.

Im Jahr darauf zwang er sich, sich keine großen Hoffnungen zu machen. Doch er saß schon auf seinem alten Stammplatz, als Simon die Kneipe betrat. Und er nickte ihm lächelnd zu, als ihre Blicke sich trafen. Simon nickte erschrocken zurück, doch da hatte der Blonde sich schon wieder abgewandt, als wäre nichts passiert.

Zu Simons Enttäuschung hatten sich seine eigenen Freunde schon in einen anderen Raum gesetzt, weshalb er ihn nur noch einmal kurz sah, als Simon neue Getränke holen ging. Wieder ein Blickkontakt, der ihm bis in die Fingerspitzen fuhr. Und auf einmal der Drang, irgendwas zu machen. Aber was? Er ging zur Theke, bestellte und steckte das Trinkgeld zwischen die Brüste der kleinen Keramik-Gisela, die auf dem Tresen festgeschraubt war, damit sie keiner klaute. Mit vier Bierflaschen in jeder Hand drehte er sich um, und er ließ sie fast wieder fallen, als er sah, wer hinter ihm stand.

Das fünfte änderte alles

„Hab nicht vorgehabt, dich zu erschrecken“, rief der Wikinger durch den Lärm. Mit einer Stimme, die klang wie ein Schluck Whisky vor dem Kamin.

„Ähm ...“, machte Simon.

„Frohe Weihnachten“, sagte der Große. Er blickte kurz zu seinen Freunden zurück. Wandte sich Gisela zu und bestellte. Das war Jahr Nummer vier. Das fünfte schließlich änderte alles.

Und jetzt, in Jahr sechs, stand Simon auf der Straße und rief: „Hier bin ich.“

*****

Lächelnd kam der Wikinger auf ihn zu und blieb mit etwas Abstand vor ihm stehen. „Hab nicht gedacht, dass du wirklich kommst“, sagte er, und seine ehrliche Erleichterung wärmte augenblicklich Simons kalte Finger. „Oder dass du noch da bist.“

„Naja. Ich hab’s versprochen, oder?“­­­­­­

Schweigen und Lächeln.

„Tut mir leid, dass du so lange warten musstest. Hab ewig im Stau gestanden.“

„Woher kommst du denn?“, fragte Simon.

„Direkt aus Hamburg.“

„Oh“, sagte Simon. „Ganz schön weit.“

„Und du?“

„Ich wohne hier, in der Stadt.“

„Oha“, sagte der andere. „Ganz schön nah.“

Der Autor von "Weihnachten mit Wikinger": Julian Mars.
Der Autor von "Weihnachten mit Wikinger": Julian Mars.

© Nora Heinisch

Der Einzige, der nicht längst weggezogen war

Simon konnte sich denken, was das heißen sollte. Er war der Einzige seiner Schulfreunde, der nicht schon längst weggezogen war. Und auch, wenn er es schade fand, dass sie sich in diesem Jahr nicht treffen konnten, vermisste er ihre blöden Sprüche darüber nicht. Dafür ärgerte er sich jetzt umso mehr über das breite Grinsen, das dieser weitgereiste Großstadt-Wikinger gerade aufsetzte.

„Was?“, fragte Simon.

„Nichts.“ Der Große zuckte mit den Schultern. „Hab nur gerade gedacht, dass wir uns noch nie so lang unterhalten haben.“

Leise atmete Simon durch. Dann wieder Lächeln und Schweigen.

„Und jetzt?“, fragte er nach einer Weile.

„Gibt es einen Weihnachtsbaum vor dem Rathaus?“

„Den haben sie so ziemlich als einziges nicht verboten.“

„Zeigst du ihn mir?“

Simon nickte und sie liefen los.

Er war ungefähr so alt wie Simon

Das Schneetreiben wurde stärker, als sie still Richtung Marktplatz spazierten, und Simon schielte immer wieder zu dem großen blonden Kerl neben sich, dessen Haare man unter der dunklen Strickmütze aber gar nicht sehen konnte. Er war ungefähr so alt wie Simon, und vor fünf Jahren hatte er noch viel mehr wie ein Junge gewirkt. Doch inzwischen war ein Mann aus ihm geworden. Ein verdammt attraktiver.

„Das hast du beim ersten Mal auch gemacht“, schmunzelte der Wikinger.

„Was?“

„Zu mir rüber geschielt, so wie jetzt. Den ganzen Abend lang.“ Er gab Simon genug Zeit, sich ertappt zu fühlen. Dann sagte er: „Das war süß.“

„Ich dachte, das war unauffällig“, murmelte Simon.

„Glücklicherweise nicht.“

Sie sahen sich an und plötzlich waren nicht mehr nur Simons Finger warm.

„Wo warst du in dem einen Jahr?“, fragte er.

„Auslandssemester“, gab der Große zurück. „In Boston.“

War ja klar, dachte Simon, und hoffte, dass er nicht gleich gefragt werden würde, ob er auch studierte.

„Studierst du hier?“, fragte der Wikinger.

Die zweite Sache, mit der sie ihn aufzogen

Simon seufzte leise. Er war auch der Einzige von seinen Schulfreunden, der nicht zur Uni gegangen war. Die zweite Sache, mit der sie ihn ständig aufzogen, obwohl er längst seinen eigenen Laden hatte, während sie sich gerade um Praktika bemühten. Im Homeoffice. „Ich bin Florist“, gab er halblaut zurück. Und schob schnell hinterher: „Das wollte ich schon immer werden, seit ich noch klein war.“

„Und, ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?“

„Ja.“ Simon musste nicht nachdenken.

„Dann bist du echt zu beneiden“, sagte der Wikinger ernst.

„Wirklich?“ Simon war erstaunt.

„Ja, klar! Ich meine, ich hab Lehramt gemacht, weil ich nichts Besseres wusste. Jetzt fange ich im Frühjahr mein Ref an, aber ehrlich gesagt weiß ich immer noch nicht, ob ich das überhaupt möchte. Deshalb beneide ich dich. Wirklich.“

Die Wärme war inzwischen in Simons Kopf angekommen und machte sich darin breit wie ein unangekündigter Übernachtungsgast. Sie war ihm trotzdem sehr willkommen. Der Wikinger lächelte. „Jetzt haben wir in zehn Minuten mehr übereinander gelernt als in den Jahren davor“.

Sie waren am Rathaus angekommen. Vor dem Weihnachtsbaum blieben sie stehen und beobachteten, wie der Schnee auf seinen Lichtern schmolz. Über ihnen schlug es halb elf. „Hab mich echt geärgert nach dem letzten Mal“, fuhr der Wikinger irgendwann fort. „Dass ich keinen Zettel dabei hatte mit meiner Nummer drauf. Aber ich dachte, es ergibt sich eh wieder keine Gelegenheit, ihn dir irgendwie zuzustecken. Und vor den anderen wollte ich es nicht machen. Oder besser gesagt, ich konnte nicht, weil ...“ Offenbar hoffte er, nicht weiter sprechen zu müssen.

Simon tat ihm den Gefallen. „Kann ich verstehen“, sagte er. „Bei mir wissen es auch viele nicht.“ Er zögerte kurz. „Und ehrlich gesagt, war ich mir auch lange nicht sicher ... ob du überhaupt ...“

„Oh, doch, ja“, unterbrach ihn der Blonde und grinste breit. „Ziemlich sogar.“ Sie mussten beide lachen. Dann wandten sie ihre Blicke vom Weihnachtsbaum ab. Sahen sich lange in die Augen und blinzelten nur, wenn eine Schneeflocke auf ihren Wimpern landete. „Hab wirklich nicht gedacht, dass du da sein würdest dieses Jahr, mit den ganzen Umständen und so“, sagte der Wikinger leise.

„Ehrlich gesagt habe ich auch nicht damit gerechnet, dass du kommst“, erwiderte Simon.

„Und trotzdem stehen wir hier. Im tiefsten Herzen Optimisten.“

Simon lächelte. Dann fragte er: „Und jetzt?“

*****

Ein Jahr zuvor saß Simon zwischen Luca und Steffi auf einer Couch und hörte nicht zu, wie Tommy ihnen von seiner neuen Freundin vorschwärmte. Denn gerade war er zwischen den Bommeln des Vorhangs verschwunden, hinter dem es zu den Toiletten ging. Und wenn Simon nicht schon verrückt geworden war, hatte er ihm davor einen dieser Blicke zugeworfen, die man nicht beschreiben kann. Aber sofort erkennt, wenn man sie sieht.

Er war sich sicher: Alle hörten seinen Herzschlag

Obwohl es bei Gisela zuging wie im Bierzelt, war er sich sicher, dass alle seinen Herzschlag hörten. Denn der war auf jeden Fall lauter als Tommys Gesülze. Simon atmete durch. Er biss sich auf die Lippe und spielte eine Weile nervös an einem der Brandlöcher auf dem Sofabezug. Dann dachte er Was soll’s!, und sagte: „Ich muss mal.“

Mit wild klopfendem Herzen trat er durch den Vorhang, und er hatte schon fast die Hand an der Toilettentür, als die sich schwungvoll öffnete. Der Wikinger kam ihm entgegen und bremste gerade noch ab, bevor die beiden zusammenstießen. Leider. Kurz wirkte er irritiert. Dann nickte er ihm zu und sagte: „Die Papiertücher sind alle.“

Äh, okay, dachte Simon, und genau das sagte er auch.

„Na, dann“, gab der Große zurück, schob sich an ihm vorbei und verschwand hinter dem Vorhang.

Simon blickte ihm nach, dann murmelte er: „Also nicht schwul.“  Er schluckte den Kloß herunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Leicht war es nicht, denn er war so groß wie vier Jahre Hoffnung. Danach betrat er den Waschraum, zählte gemeinsam mit seinem Spiegelbild leise bis zehn und wusch sich lange die Hände. Mit nassen Fingern trat er auf den Gang und wollte gerade nach rechts, als er plötzlich am linken Arm gepackt wurde. Er keuchte erschrocken, und noch bevor er begriff, was mit ihm geschah, wurde er am Kondomautomaten vorbei um die Ecke bugsiert und gegen die Kellertür gedrückt.

"So geht das nicht weiter"

Der Wikinger sah ihn ernst an. Im Halbdunkel glitt sein Blick über Simons Gesicht, als ob er schon viel zu lange darauf gewartet hätte, es sich endlich in Ruhe anschauen zu können. Dann sagte er: „So geht das nicht weiter.“ Er beugte sich vor und küsste ihn.

Simons Glück dauerte irgendwas zwischen zwei und zweihundert Sekunden, er konnte es später nicht sagen. Dann rief einer vom anderen Ende des Flurs: „Pelle? Wo steckst du?“

„Verdammt!“, flüsterte der Wikinger. Er legte einen Finger auf Simons Lippen und küsste ihn sanft auf die Nase. Simon roch Giselas Veilchenseife.

„Pelle, jetzt komm! Wir bringen Lisa zum Zug!“

Pelle?“, formten Simons Lippen lautlos, und der Wikinger zuckte grinsend mit den Schultern.

Der Eindringling stieß die Toilettentür auf und machte sich offenbar dort auf die Suche.

„Ich muss gehen“, sagte Pelle leise. Er wirkte genau so unglücklich, wie Simon sich fühlte.

„Alter, wo bist du?“ Die Durchsuchung der Toiletten war offenbar schon wieder beendet.

„Nächstes Jahr?“, flüsterte der Wikinger.

Simon nickte.

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Sie sahen sich ein letztes Mal in die Augen, während sie den näherkommenden Schritten lauschten. Der Wikinger nickte zum Abschied und verschwand um die Ecke.

„Alter, was machst du denn da hinten?“, fragte sein nervender Freund.

„Los, lass uns gehen“, bekam er zur Antwort. Freundlich klang es nicht.

Simon blieb ganz still, bis ihre Schritte verklungen waren. Dann fuhr er sich über die Lippen und murmelte: „Pelle! Bescheuert!“

*****

Die Stille nach Simons „Und jetzt?“ war so lang, dass er Zeit hatte, sich an die Szene vor der Kellertür zu erinnern, zum tausendsten Mal. Es war wunderschön gewesen und viel zu kurz. Und furchtbar lange her. Aber dieses Jahr war alles anders. Sie waren alleine. Sie standen vor dem großen Weihnachtsbaum. Und sie hatten alle Zeit der Welt.

„Versteh das nicht falsch“, sagte der Wikinger. „Aber ich muss leider schon wieder los.“ Sie hatten also nicht alle Zeit der Welt. „Ich würde gerne noch bleiben“, schob er schnell hinterher, als er Simons Miene sah. „Sehr gerne. Aber ich hätte schon längst zu Hause ankommen müssen. Du kennst das wahrscheinlich.“

Ja, Simon kannte es. Doch was er inzwischen genauso gut kannte, war das Gefühl, dass sie schon wieder dabei waren, ihre Chance zu vertun. Wenn er sich in den letzten Wochen ausgemalt hatte, wie sich die Dinge entwickeln könnten, falls der Wikinger tatsächlich auftauchte, hatte er an ein Dutzend Möglichkeiten gedacht. An diese hier sicher nicht.

Simon war noch nie ein Draufgänger gewesen

Simon war noch nie ein Draufgänger gewesen, nicht mal sowas Ähnliches. Doch auf einmal hatte er keine Lust mehr, immer nur abzuwarten, dass die Dinge sich irgendwie entwickelten. Wenn sie beide zu feige waren, diese Chance hier zu nutzen, würden sie sich erst in einem Jahr wiedersehen, wenn überhaupt. Was hatte er also zu verlieren? Eben. Nichts.

„Was soll’s“, sagte er und machte einen Schritt auf den Wikinger zu. Der guckte erst überrascht, und als er endlich kapierte, dass Simon ihn gleich küssen würde, sprang er so panisch zur Seite, dass er dabei ausrutschte und am Schluss fast im Weihnachtsbaum landete.

Sämtliche Wärme war aus Simon gewichen, noch bevor der Wikinger sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Verdammt! Wie hatte er die Situation nur so komplett falsch einschätzen können? Ohne Vorwarnung rammte ihm die Scham eine eiskalte Faust in den Magen, und er schloss die Augen, um zu verhindern, dass die sich mit Tränen füllten. Doch er sah sofort wieder das entsetzte Gesicht des Wikingers vor sich, der sich vor ihm in Sicherheit brachte.

„Ich ...“, stammelte er, aber er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Also drehte er sich um und wollte einfach weglaufen. Doch eine Hand hielt ihn zurück.

„Warte“, hörte er die Kaminfeuerstimme des Wikingers hinter sich. „Bitte.“

Widerwillig blieb Simon stehen.

„Drehst du dich noch mal um?“

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Simon biss die Zähne zusammen. Er hatte nicht die geringste Lust, sich eine aufmunternd gemeinte Lüge anzuhören, warum es zwischen ihnen nichts werden würde. Doch irgendwas an dem festen Griff um seinen Arm hielt ihn davon ab, sich loszumachen und nach Hause zu rennen. Also drehte er sich noch einmal um. Der Wikinger ließ ihn los und trat einen Schritt zurück.

„Ich bin jetzt einfach mal ein bisschen direkter als sonst bei einem ersten Date“, sagte er, nachdem er lange nach Worten gesucht hatte. „Aber wir kennen uns ja auch schon eine Weile. Irgendwie.“ Er versuchte sich an einem Grinsen, doch seine Nervosität durchkreuzte den Plan.

„Ich fand dich schon toll, als wir uns das erste Mal gesehen haben. Und ich meine nicht nur, wie du aussiehst, sondern ... alles. Wie du lachst, wie du mit deinen Freunden sprichst. Dass du offensichtlich keine Ahnung hast, wie süß du bist. Und wie du dachtest, dass ich deine Blicke nicht bemerke.“ Jetzt klappte es doch mit dem Grinsen. „Die Sache ist“, fuhr er fort, „die ersten zwei Jahre hatte ich noch einen Freund. Zumindest dachte ich das. Sonst hätte ich mir wahrscheinlich früher was überlegt für uns. Das Jahr darauf war ich in Boston, und ...“

Noch einmal tief durchatmen

„Komm, ist egal“, sagte Simon. Er wollte einfach nach Hause.

„Nein, es ist nicht egal. Hör zu!“ Er atmete noch einmal tief durch. „Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, lange Geschichte. Die ist jetzt achtzig und ich besuche sie über Weihnachten. Hab deswegen die letzten zehn Tage alleine zu Hause verbracht und bin mit dem Mietwagen gekommen statt mit dem Zug. Eigentlich wäre ich direkt zu ihr gefahren, aber vorher musste ich unbedingt bei Gisela vorbei. Weil ich wissen musste, ob du da bist. Verstehst du?“

Simon verstand. Auf einmal kam er sich unglaublich dämlich vor. Und leichtsinnig.

„Hey“, sagte der Wikinger, der seine Gedanken erriet. „Du konntest es nicht wissen. Und wenn es nicht wegen meiner Oma wäre ...“ Schon wieder dieses Grinsen. „Glaub mir, ich wäre nicht in den Baum gesprungen. Okay?“

„Okay“, sagte Simon, dessen Mundwinkel jetzt keine Lust mehr hatten, auf Befehle zu warten. Ganz von alleine wanderten sie nach oben.

Ein verknitterter Zettel

„Ich muss leider wirklich los. Meine Oma ist bestimmt noch wach und wartet. Aber ich hab noch was für dich.“ Er zog einen zerknitterten Zettel aus der Jackentasche und hielt ihn Simon entgegen. „Den hab ich nach letztem Mal geschrieben und seither mit mir rumgetragen, damit ich ihn griffbereit habe, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“

Simon nahm das Papier und faltete es sorgfältig auseinander. Max stand in krakeliger Schrift unter einer Handynummer. „Und ich muss dir noch was sagen“, fuhr der Wikinger fort. Oder Max. Egal. „Ich hab dir doch von meiner Stelle erzählt, die demnächst beginnt.“

„Ja?“

„Das ist hier. Ich will wieder näher bei meiner Oma sein, falls sie was braucht.“ Warm war plötzlich keine passende Größe mehr. Auf einmal war es Simon so heiß, dass er seine Jacke öffnete. Doch Max war immer noch nicht fertig: „Ich bleibe bis Neujahr. Mein Zug geht kurz nach zwei. Du wohnst also hier in der Stadt, richtig?“

„Fünf Minuten von Gisela“, nickte Simon.

„Okay, dann noch eine letzte Frage, zum Abschied.“ Er sah Simon mit großen Augen an. „Möchtest du mich am Ersten zum Frühstück einladen?“

Simon faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in seine Tasche. Dann erwiderte er den Blick des Wikingers. „Wir haben uns noch nie bei Tageslicht gesehen“, sagte er. „Ich finde, es wird mal Zeit.“

Julian Mars

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