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Claude Kempen möchte das Thema Nicht-Binarität sichtbarer machen.

© Amélie Baasner

„Ich werde mich mein Leben lang mit meiner Geschlechtlichkeit befassen”: Claude will die Sichtbarkeit von nicht-binären Personen erhöhen

Nicht-binäre Personen erfahren im Gesundheitssystem viel Diskriminierung. Einige müssen vorgeben etwas zu sein, das sie gar nicht.

Claude Kempen wohnt im Hinterhaus, in einer Zwei-Zimmer Wohnung in Berlin Moabit. Die Küche ist hell, auf den Regalen stehen Alpensalz und Vitaminpulver. Während des Gesprächs hat Claude beide Hände auf dem Tisch, spielt mit dem Ehering. Claude trägt einen weinroten Anzug von Herr von Eden, die Haare zurück. Im Arbeitszimmer steht ein Geweih am Boden, ein persischer Teppich im Rot des Anzugs dominiert den Raum. Claude spricht sehr ruhig, lacht immer wieder, bietet Ferrero Küsschen und Rocher an.

Claude ist nicht-binär und nutzt das Pronomen dey. Das ist die deutsche Entsprechung des englischen, neutralen Pronomens „they”. Auf die Frage danach, was „nicht-binär” bedeutet, lacht Claude. „Nicht-Binarität ist das Projekt meiner Doktorarbeit, weil ich mir diese Frage auch oft stelle und versuche herauszufinden, was Geschlechtlichkeit außerhalb von binären Vorstellungen bedeuten kann.”

Für dey ist es ein Begriff, der eine Art Gender-Maximalität verkörpert; ein Begriff, in dem Claude sich meistens zuhause fühlt. Claude fühlt sich in vielen Formen des geschlechtlichen Ausdrucks wohl und probiert gerne verschiedene Kleidungsstile aus. Auch beim Gesang bleibt Claude nicht in einer Stimmlage, sondern wechselt zwischen Altstimme und Bariton. Dass Transsein auch nicht-binäre Identitäten umfasst, ist längst erwiesen: Das zeigt etwa eine Umfrage unter US-amerikanischen trans* Personen, an der sich rund 28.000 Personen beteiligten und von denen 29 Prozent angaben, dass sie sich als nicht-binär identifizierten

Die dritte Geschlechtsoption wird kaum berücksichtigt

Bis Claude sich darüber bewusst wurde, nicht-binär zu sein, war es ein langer Weg, den Claude größtenteils alleine gehen musste. Claude stieß von Seiten der Gesellschaft immer wieder auf Hürden, wurde nicht ernst- oder wahrgenommen. „Ein System, das transgeschlechtliche Menschen eigentlich unterstützen sollte, steht uns eher im Weg“, sagt Claude.

Stattdessen waren es Bücher, die dabei halfen, der eigenen Identität zu begegnen. „Stone Butch Blues“ von Leslie Feinberg etwa weckte den Wunsch in Claude, als Person gesehen zu werden und nicht darauf reduziert zu werden, einem Geschlecht innerhalb des binären Rahmens zuzugehören.

Immer wieder wird Claude im Alltag danach gefragt, was dey denn nun sei, Mann oder Frau. Abgesehen von den Test- und Impfzentren gebe es kaum Einrichtungen, die die dritte Geschlechtskategorie übernommen haben, so Claude - und das, obwohl es seit 2018 in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben ist. Doch die mangelnde Sensibilität der Gesellschaft geht tiefer, geht bis an Claudes Substanz: die medizinische Betreuung, sprich, Claudes körperliche Unversehrtheit.

Claude fühlt sich in vielen Formen des geschlechtlichen Ausdrucks wohl.
Claude fühlt sich in vielen Formen des geschlechtlichen Ausdrucks wohl.

© Amélie Baasner

Erst über die sozialen Medien lernte Claude Menschen kennen, mit denen dey sich über Themen wie die Transition austauschen konnte. Mit ihnen sprach Claude darüber, an welche Ärzt*innen man sich wenden kann und wie sich Körperdysphorie anfühlt; wie es ist, wenn das Umfeld einem ein falsches Geschlecht zuschreibt oder das eigene Aussehen und innere Empfinden nicht zu den persönlichen Geschlechtlichkeitsvorstellungen passt.

Mittlerweile berichtet Claude auf Instagram offen über die eigene Mastektomie, zeigt den Prozess der Wundheilung und die Narben. In Deutschland ist es für nicht-binäre Personen nicht einfach, operative Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Viele gehen deswegen ins Ausland. „Das kann unterschiedliche Gründe haben”, sagt Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans*, „zum Beispiel, wenn die Kosten kaum oder gar nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Oder wenn die Wartezeiten in Deutschland zu lang sind, weil es nur wenige erfahrene Chirurg*innen gibt.”

Gesellschaftliche Vorstellungen von männlich und weiblich

Außerdem gebe es vorgefertigte Bilder von männlichen und weiblichen Körpern, die Patient*innen können sich und ihre Wünsche kaum einbringen. „Häufig wird anhand starrer Regeln entschieden. Anstatt Geschlecht als vielfältig zu betrachten, werden enge Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit aufrechterhalten.” In Claudes Fall war es nicht möglich, neben der Brust auch die Brustwarzen entfernen zu lassen. Claude reiste für die Operation in die Schweiz und entschloss sich einmal mehr, über Nicht-Binarität zu sprechen, „und das Thema sichtbar zu machen”.

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Die mangelnde Berücksichtigung nicht-binärer Personen im Gesundheitssystem liegt maßgeblich am sogenannten “Transsexuellengesetz” (TSG), das in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik stand. Die Ampelkoalition hatte bereits nach der Wahl angekündigt, das diskriminierende Gesetz durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen.

Das Problem: Zurzeit bedarf es zur gesetzlichen Namens- und Personenstandsänderungen noch zweier medizinischer Gutachten, die die Transgeschlechtlichkeit „bestätigen“. „Wenn jemand weder Hormontherapie noch OP gemacht hat, dann wirft das in vielen Begutachtungen unangenehme Fragen auf”, sagt Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans*. “Bis heute sind das sehr entwürdigende Verfahren.”

Die Untersuchungen bei der Endokrinologin vergleicht Claude mit einem Vorstellungsgespräch. „Sie hat mich gemustert, die Schultern, das Gesicht. Ob ich denn genug Testosteron nehme. Es war so anstrengend, mich jedes Mal zu beweisen und das in einem Rahmen, in dem ich mich nicht sicher gefühlt habe.“ Ständig habe die Ärztin erwartet, dass sich Claude überzeugt zeige von der Transition. „Als würde die Transition alle Probleme beheben, das ist doch absurd.” Claude musste sich euphorisch geben selbst an Tagen, an denen dey Selbstzweifel hatte und Bestärkung gebraucht hätte.

Mit der Situation von nicht-binären Personen in Deutschland und Transitionserfahrungen setzte Claude sich auch auf wissenschaftlicher Ebene im Rahmen der eigenen Masterarbeit auseinander. Basierend auf individuellen Erfahrungen und der Rechtslage arbeitete Claude heraus, wie nicht-binäre Personen im Gesundheitssystem kaum berücksichtigt werden, wie sie ständig vorgeben müssen, trans binär zu sein und pathologisiert werden.

Fehlende Informationen zur Einnahme von Testosteron

Auf welche Art und Weise trans Menschen transitionieren, ist eine sehr inidividuelle Angelegenheit. Einige trans Menschen möchten gar keine medizinische Transition durchlaufen, andere wollen Hormone vielleicht niedriger dosieren. Zur mikro-dosierten Einnahme von Testosteron gebe es jedoch keine Informationen, nur einige Videos auf Youtube und einen Zeitungsartikel, erzählt Claude. Die Einnahme einer geringeren Dosis an Testosteron sei aus ärztlicher Sicht unerwünscht, da sie eine „vollständige“ Transition verhindert.

Selbst die Liste an sensiblen Ärzt*innen sei unzuverlässig. „Wir sind eine Community, die eigentlich nur über Selbsthilfegruppen funktioniert und von der Gesellschaft fast vergessen wurde”, sagt Claude. „Um die Diagnose trans und damit die Kostenübernahme durch die Krankenkasse zu bekommen muss ich vorgeben, alle Schritte der Transition wollen“, sagt Claude.

Genau darin sieht dey ein grundlegendes Problem: Dass Transition immer noch als etwas verstanden wird, das einen klaren Anfang und ein klares Ende hat und das in jedem Fall bestimmte Schritte wie operative Maßnahmen oder die Einnahme von Hormonen beinhalten müsse. „Diese Erwartung, eine Transition sei irgendwann fertig ist absurd“, sagt Claude. „Ich werde mich mein Leben lang mit meiner Geschlechtlichkeit befassen, sowohl persönlich als auch akademisch.”

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