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Die brasilianische Politikerin Erika Hilton.

© Rafa Canoba

Brasilianische Kongressabgeordnete Erika Hilton: Gegen Hass und Hunger

Zum ersten Mal in der brasilianischen Geschichte wurden zwei trans Frauen in den Kongress gewählt. Erika Hilton aus São Paulo ist eine davon. Sie hat große Ziele.

„Salve, salve“ – mit diesen Worten begrüßt die schlanke Frau mit dunklen Locken und einem Nasepiercing oft ihre Zuhörinnen und Zuhörer. Danach spricht sie mit fester, geübter Stimme über Menschenrechte, Diversität und aktuell auch oft über die Rettung der Demokratie. Erika Hilton ist 29 Jahre alt und wurde am 2. Oktober im ersten Wahlgang der Wahlen in São Paulo in den brasilianischen Nationalkongress gewählt – als erste trans Frau überhaupt.

„Das ist ein Schlüsselmoment“, freut sie sich. Neben Hilton wurde im Bundestaat Minas Gerais noch eine zweite trans Frau in den Kongress gewählt, Duda Salabert. Für Hilton ist das ein wichtiger Sieg: Politische Repräsentation verhelfe trans Personen zu Sichtbarkeit und lege die Grundlage für adäquate Politik.

Der brasilianische Kongress ist alles andere als ein Inbegriff von Diversität – auch in der kommenden Legislaturperiode. Von 513 Abgeordneten sind gerade mal 91 Frauen, das sind 17,7 Prozent. Auch People of Color sind stark unterrepräsentiert: Gerade mal 26 nicht weiße Abgeordnete werden in der kommenden Legislaturperiode vertreten sein, obwohl People of Color rund die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung ausmachen.

Eine Schwarze trans Abgeordnete wie Erika Hilton muss in diesem politischen Umfeld nicht viel tun, um herauszustechen – und herausstechen will sie auch. Im Gespräch erzählt Hilton, dass sie sich darauf vorbereitet in den kommenden vier Jahren ein aktives und unbequemes Mandat zu erfüllen.

„Ich kämpfe für alle meine Schwestern, die gewaltvoll zum Schweigen gebracht worden sind“, meint sie. Damit spielt sie auf eine traurige Statistik an: Bereits das 13. Jahr in Folge wurden nirgends auf der Welt so viele trans Personen ermordet wie in Brasilien. Im Jahr 2021 kamen laut Daten des Verbands Antra 140 trans Personen gewaltvoll ums Leben.

Wie sich die Situation für trans Personen in Brasilien in den kommenden Jahren entwickelt, hängt maßgeblich von der Stichwahl ums Amt des Präsidenten am Sonntag ab: Zur Wahl stehen der aktuelle, rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro und der ehemalige, linke Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva.

Luiz Inácio „Lula“ da Silva (l) und Jair Bolsonaro konkurrieren um das Präsidentenamt.

© Foto: dpa/Marcelo Chello

Die Wahl gilt als die wichtigste den vergangenen Jahrzehnten. Viele Experten und Expertinnen sehen in Bolsonaro eine Bedrohung für die Demokratie im Land, außerdem hinterlässt er aufgrund von steigende Regenwald-Abholzungsraten eine fatale Klimabilanz.

Für queere Menschen war Bolsonaros Amtszeit ebenfalls hochproblematisch, immer wieder fiel der Präsident durch Hass und Hetze gegen sie auf. So sagte er einmal, dass er lieber einen toten als einen schwulen Sohn hätte. Auch gegen trans Menschen und die angebliche „Genderideologie“ macht Bolsonaro regelmäßig Stimmung. Erika Hilton hat diesem Hass nicht einfach zugeschaut: Die transfeindlichen Kommentare des Präsidenten zeigte sie immer wieder vor verschiedenen Gerichten an.

Hilton ist nicht ganz neu auf der politischen Bühne. Seit 2020 ist sie Stadträtin in São Paulo. Auch auf dieser Position war sie die erste trans Frau überhaupt. Mit ihrer Wahl gewann sie plötzlich nationale Berühmtheit, die brasilianische Linke feierte sie. Gleichzeitig wurden sie auch immer mehr zur Zielscheibe des Hasses, vor allem in Internet bekam sie Drohungen. „Ich habe jede einzelne angezeigt“, erzählt sie. „Ich wollte das nicht gesenkten Hauptes über mich ergehen lassen“.

Erika Hilton mit Regenbogenflagge.

© Promo

Als Stadträtin hat Erika Hilton zuletzt in der Kommission für Menschenrechte im Stadtrat gearbeitet. „Mein größter politischer Erfolg war, dass ich es geschafft habe in São Paulo einen städtischen Fonds zur Bekämpfung des Hungers zu verabschieden“, sagt sie. Dies will sie auch zu ihrem Hauptthema im Nationalkongress machen.

„Das ist ein Thema das die LGBT*-Bevölkerung in Brasilien stark betrifft“, sagt sie. „Dabei geht es aber auch um Maßnahmen, von denen alle profitieren“. Außerdem möchte Hilton gerne einen Untersuchungsausschuss gründen, der die Rückschritte unter der Regierung Bolsonaro analysiert.

Einfach werden solche Projekte nicht. Unabhängig davon, wie der nächste Präsident heißt, wird es in den kommenden Jahren in Brasilien eine Herausforderung progressive, linksgerichtete Politik umzusetzen. Im ersten Wahlgang zogen nämlich viele konservative Politiker in Senat und Kongress ein. Davon will sich Hilton aber nicht entmutigen lassen: „Ich bin zuversichtlich, dass ich etwas verändern kann“, sagt sie.

Ich bin stolz auf meine Geschichte.

Erika Hilton, die einst als Prostituierte gearbeitet hat.

Sich durchzubeißen hat Hilton schon früh gelernt: Sie ist am armen Rand der Metropolregion São Paulo und in der Kleinstadt Itu im selben Bundesstaat aufgewachsen. Teile ihrer Familie sind evangelikal. Evangelikale Christen interpretieren die Bibel oft wörtlich, sind ultra-konservativ und lehnen queere Identitäten und Abtreibungen ab. „Dämonenaustreibungen“ oder „Heilungen“ von den selbstdefinierten Krankheiten sind nicht selten Teil des Gottesdienstes.

Das musste auch Erika Hilton erleben: Sie wurde als Teenager dazu gezwungen Gottesdienste zu besuchen, um sie von ihrer queeren Identität abzubringen. Geklappt hat das nicht. Mit 14 wurde sie zu Hause rausgeschmissen, lebte auf der Straße von Prostitution. „Das ist nicht nur meine Realität, das passiert mit 90 Prozent der trans Frauen im Land“, fügt Hilton hinzu.

Sechs Jahre später kehrte sie zu ihrer Mutter zurück, holte ihren Schulabschluss nach und begann Pädagogik zu studieren. Gleichzeitig engagierte sie sich immer stärker politisch: 2015 ging sie gegen ein Busunternehmen vor, dass sich weigerte ihren weiblichen Namen auf ihre Fahrkarte zu drucken. Später trat sie der PSOL (Partido Socialismo e Liberdade, vergleichbar mit der deutschen Linkspartei) bei, für die sie nun auch im Kongress sitzen wird.

Sie käme nie auf die Idee ihre schwierige Jugend zu verschweigen, meint Hilton. „Ich bin stolz auf meine Geschichte“, sagt sie. Durch all die Schwierigkeiten und Herausforderungen habe sie zu der Politikerin werden können, die sie heute ist. Außerdem möchte sie damit ein Vorbild für andere queere Menschen sein, die in ähnlichen Situationen fast verzweifeln.

Richtig verbessern kann sich laut Hilton die Situation für queere Menschen in Brasilien nur mit Lula an der Spitze der Regierung. In Brasilien habe es bisher nie gute Politik für die LGBTI*-Bevölkerung gegeben, statt in den Parlamenten seien die meisten Rechte für queere Personen in Gerichtsprozessen garantiert worden.

„Aber unter Bolsonaro gab es nur Rückschritte“, sagt sie. „Es herrschen Brutalität, Hass und Gewalt“. Bis zur Stichwahl macht sie darum weiter täglich Wahlkampf.  Sie ist zuversichtlich, dass Lula gewinnt und queere Menschen in Brasilien dann ein bisschen optimistischer in Zukunft schauen können. 

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