zum Hauptinhalt
Eingeölte Körper, flirrendes Silber: Kiddy Smile und Ritchy Cobral Delavega.

© Amélie Baasner

Berliner Ballroomszene: Come on, vogue!

Im Viereck tanzen wie Beyoncé, Rihanna und Madonna: Voguing erobert Berliner Clubs. Die Geschichte eines schillernden Revivals.

Erwartungsvolle Anspannung im Neuköllner Schwuz. Junge Menschen in Overknee-Stiefeln, pinken Pelzmänteln und Glitzerkleidchen drängen um einen auf dem Boden angedeuteten Laufsteg. Eingeölte Körper, flirrendes Silber, Haarsprayduft beißt in der Nase.

Dann betritt Georgina Leo Saint Laurent auf schwindelerregenden Stilettos den Laufsteg, sie hält das Mikrofon wie eine Waffe. Die Frau in glänzender Uniform ist eine Autorität der europäischen Szene: „Der Runway muss komplett frei sein!“ Widerspruch? Lieber nicht.

Georgina brachte 2011 das Voguing nach Deutschland. Den Tanzstil kennzeichnen seine linearen und rechtwinkligen Arm- und Beinbewegungen in Anlehnung an Posen von Models, definiert Wikipedia. Die Bezeichnung stammt von der Modezeitschrift „Vogue“ – Madonna hatte dem Tanz 1990 mit dem gleichnamigen Song einen Durchbruch in den Mainstream verschafft.

Alle wollen als neues Talent entdeckt werden

Jetzt setzt ein ohrenbetäubender Bass ein, und Jay Jay Revlon verwandelt das erwartungsvoll-kritische Publikum in einen begeisterten Mob, alle klatschen, brüllen und pfeifen. Als kurz darauf die Jurymitglieder des Abends ihre Begrüßungsrunde auf dem Laufsteg drehen, drängen alle Tänzerinnen und Tänzer aus dem Backstage-Bereich auf die Bühne am Kopfende des Runways. Die Jury besteht aus Yancey Edwards, Sinia B. Alaia, Robert St. Laurent, Stanley DeVaughn und Arturo Lyons. Die Leute mit den klangvollen Namen wurden aus New York eingeflogen, sind Ikonen und Mitbegründer der Voguing-Szene.

Katja Angels Prodigy und Howard-Rayos Saint Laurent
Katja Angels Prodigy und Howard-Rayos Saint Laurent

© Amélie Baasner

Eingepfercht zwischen den johlenden Tänzern auf der Bühne spürt man Adrenalin, Aufregung und Anspannung. Alle hoffen darauf, von der Jury als neues Talent entdeckt zu werden.

Gastgeberin Sophie Yukiko Mulan Saint Laurent trägt natürlich Gold, aus ihrem Afro rieseln bei jedem Schritt hauchfeine Glitzerpartikel. „Wir sind heute hier, um uns an all die Mitglieder der Community zu erinnern, die nicht mehr unter uns sind, die uns viel zu früh verlassen haben.“ Es legt sich für einen Moment Stille über den Raum. Die Ballroom-Szene verlor in den 80er und 90er Jahren immer wieder Mitglieder durch HIV.

[Wer noch mehr über das queere Berlin erfahren will: Der Tagesspiegel-Newsletter Queerspiegel erscheint monatlich, immer am dritten Donnerstag. Hier kostenlos anmelden: queer.tagesspiegel.de]

Sophie beginnt, einzelne Namen zu verlesen, ihre Stimme bebt. Jeder Verstorbene wird bejubelt, viele Zuschauer haben Tränen in den Augen. Sie scheinen zu begreifen, dass sie für einen Abend Teil einer Gemeinschaft sind, die trotz aller Verluste, gesellschaftlicher Ausgrenzung und allen Leids ihre Stärke und Schönheit bewahrt hat.

Der Ursprung liegt im New York der Sixties

Hinter dem Hype um die wunderschönen Outfits und akrobatischen Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer verbirgt sich eine sehr viel ältere Community, die ihren Ursprung im New York der Sixties und Seventies hatte. Damals versammelten sich in der sogenannten Ballroom-Szene vor allem homo- und transsexuelle Afroamerikaner und Latinos, die von der weißen Gesellschaft marginalisiert wurden. Aus der Angst vor physischer Gewalt und Repression entstand ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und daraus wiederum eine Gemeinschaft mit weltweitem Netzwerk.

Jay Jay Revlon
Jay Jay Revlon

© Amélie Baasner

Die nach großen Modelabels benannten „Häuser“, also Gruppierungen, der Ballroomszene wurden zum Familienersatz. Voguing war der Widerstand der Community, das getanzte Statement. Es lautete: Wir, die in der Welt der Schönen und Reichen keinen Platz im Ballsaal haben, die weder eurem Schönheitsideal noch dem heteronormativen Geschlechterverständnis entsprechen, schaffen unsere eigene Sprache – und den eigenen Ballroom.

„Die Community ist für mich ein sicherer Ort“

Das Publikum klatscht entschlossen weiter, als Jay Jay wieder das Mikrofon übernimmt, um durch den Wettkampf zu führen. Die Tänzer treten je nach Kategorie gemeinsam mit einem Partner oder allein an. Die Einzigartigkeit des Voguing besteht darin, dass die Gegner gleichzeitig auf dem Runway zu sehen sind. Mit ihrer Performance versuchen die Tänzer, den Gegner durch Gestik und Mimik auszustechen, sich vor ihn zu drängeln und die Aufmerksamkeit der Jury auf mehr oder weniger faire Weise auf sich zu ziehen.

Sinai B. Alaia.
Sinai B. Alaia.

© Amélie Baasner

Auch Eray Gülay aus Berlin wird heute antreten. Seine dunklen Augen strahlen freudig, trotz der Nervosität wirkt der 27-Jährige ruhig. Gülay hat in Essen zeitgenössischen Tanz studiert, zum Voguing kam er 2012. „Meinen ersten Ball habe ich 2013 gesehen. Dann wusste ich: Hier gehöre ich hin. Die Community ist für mich ein sicherer Ort, und Voguing ein Tanz, der für schwule Männer wie mich entwickelt wurde.“ Momentan hat Gülay den Status eines 007. Das bedeutet: Er ist ein Tänzer ohne zugehöriges Haus. Gülay tritt in der Kategorie „Vogue Femme“ an, einer hyperfemininen Neuinterpretation des klassischen „Old Way“, welche sich durch besonders strenge, rechteckige Elemente auszeichnet.

Sophie Yukikos Mulan Saint Laurents Stiefel.
Sophie Yukikos Mulan Saint Laurents Stiefel.

© Amélie Baasner

Gülays Bewegungen sind filigran und unglaublich präzise. Aus einer Drehung heraus lässt er sich mühelos fallen, springt wieder auf und wirbelt weiter. Er scheint dem Zuschauer eine Geschichte zu erzählen, während er den Runway für sich einnimmt. Jede Bewegung Gülays wird vom Klatschen des Publikums begleitet und von Jay Jay kommentiert, die Community auf der Bühne feiert sowieso jeden seiner Schritte. Sein Outfit ist verhältnismäßig schlicht, er trägt Schwarz mit roten Socken. Nichts lenkt von seinen langen Beinen und den glänzenden Haaren ab. Auch wenn er heute Abend keinen Preis gewinnt, hat Gülay sein Ziel erreicht: gesehen zu werden.

Strike a pose! Ein unbekannter Tänzer.
Strike a pose! Ein unbekannter Tänzer.

© Amélie Baasner

In Berlin bieten viele Tanzstudios Voguing-Kurse an

Durch die Serie „Pose“ und Stars wie Beyoncé und Rihanna, die sich aus dem Bewegungsrepertoire des Tanzstils bedienen, rückt er weiter ins Rampenlicht. In Berlin bieten viele Tanzstudios Voguing-Kurse an [Das House of Saint Laurent bietet Kurse an über motionsberlin.de.], fast jeder Teenager kennt ein paar Bewegungen, die auch Elemente des Hip Hop, der Martial-Arts und des Breakdance integrieren.

Bis heute wird jedes Haus von einer „Mutter“ oder einem „Vater“ geleitet, die für die Mitglieder des Hauses Elternteil und Ikone zugleich sind. Aufklärung über HIV sowie die Betreuung von Geschlechtsangleichungen sind neben Elternabenden und Hausaufgabenbetreuung bei jüngeren Mitgliedern auch heute noch Teil des Alltags der Mütter und Väter.

Nach Stunden des Wettbewerbs und einer Vielzahl skurriler und teilweise absurder Kategorien, die neben den tänzerischen Fähigkeiten auch selbst geschneiderte Outfits, die Schönheit des Gesichts und die Souveränität des Catwalks beurteilen, räumt die „Family“ das Feld. Die Zuschauer tanzen weiter oder gehen nach Hause – mit ein bisschen Glitzer im Herzen.

Amélie Baasner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false