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Ein Kostümfest im Institut für Sexualwissenschaft. Das Haus war Anzugspunkt für Künstler und Intellektuelle weltweit.

© Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin

100 Jahre Institut von Magnus Hirschfeld: Die Erfindung der Sexualwissenschaft

Zufluchtsort und Forschungseinrichtung: Vor 100 Jahren gründete Magnus Hirschfeld sein Berliner Institut für Sexualwissenschaft.

„Der homosexuelle Mensch darf nicht allein in seiner Sexualität, er muss in seiner gesamten Individualität aufgefasst und erforscht werden“, schrieb Magnus Hirschfeld1899. Dieses Ziel verfolgte der Mediziner und Sexualwissenschaftler sein Leben lang. Um die Menschen in ihrer ganzen Individualität zu erfassen, gründete Hirschfeld 1919 auch sein Institut für Sexualwissenschaft. Mit seinem Privatvermögen bezahlte er das Gebäude nahe dem Reichstag, wo heute das Haus der Kulturen der Welt steht. Vor 100 Jahren, am 6. Juli 1919, öffnete es seine Türen.

Das Institut war als Forschungs-, Lehr- und Bildungseinrichtung zu allen Fragen der Sexualität gedacht, sagt Ralf Dose. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, die 1982 von Mitgliedern der West-Berliner Schwulen- und Lesbenbewegung gegründet wurde, um das Erbe Hirschfelds zu erforschen. „Die Reduktion auf Homosexualität ist sicher falsch“, sagt der Wissenschaftler. Hirschfeld ging es viel mehr darum, Aspekte von Homo- und Transsexualität in ein Gesamtverständnis von Sexualität einzubetten.

Die Institutsgründung 1919 passt gut in die Entwicklung der Sexualwissenschaft, an der Hirschfeld selbst maßgeblich beteiligt war. So hat Hirschfeld, der 1868 in Kolberg als Sohn eines jüdischen Arztes geboren wurde, 1908 die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft mitbegründet und 1913 die erste Fachgesellschaft. Da die Sexualwissenschaft an Universitäten nicht anerkannt war, gründete Hirschfeld kurzerhand selbst ein Institut für die junge Disziplin. „In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ging es vor allem um Geschlechtskrankheiten“, erzählt Dose. Die Soldaten kehrten mit allen möglichen Erkrankungen zurück, die Behandlung war aufwändiger und langwieriger als heute. Auch eine Eheberatungsstelle wurde eingerichtet. Ab Mitte der zwanziger Jahre bekam das Bildungselement ein stärkeres Gewicht. Es fanden regelmäßige Frageabende im Institut statt, an denen Menschen Fragen zu ihrer Sexualität in einen Briefkasten steckten, die dann anonym beantwortet wurden. „Diese Methode wird noch heute gelegentlich in der Sexualpädagogik angewendet.“

Hirschfeld gilt als Vordenker der Queer Theory

Hirschfelds Theorie war die der sexuellen Zwischenstufen, er gilt heute vielen als Vordenker der Queer Theory. In dem Jahrbuch von 1899 benannte Hirschfeld die Erkenntnis, dass „zwischen Mann und Weib in allen geistigen und körperlichen Punkten nur graduelle, quantitative Unterschiede bestehen“, als wertvollstes Ergebnis seiner Forschungen. „Es ging Hirschfeld darum, jeder einzelnen Person in ihren individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden“, sagt Ralf Dose. Die Fokussierung auf Individualität in Zeiten, in denen sonst nur von Volksgesundheit die Rede war, ist für den Historiker beachtenswert: „Das war seiner Zeit heftig voraus.“ Dass Hirschfelds Arbeit heute auf Homo- und Transsexualität reduziert wird, liegt sicher auch an seiner aktivistischen Arbeit. 1897 begründete Hirschfeld das wissenschaftlich-humanitäre Komitee, das öffentlich für die Abschaffung des Paragraphen 175 stritt, der Homosexualität kriminalisierte.

Hirschfeld glaubte, dass Menschen auf vier verschiedenen Ebenen entweder weiblich, männlich oder etwas zwischen diesen beiden Polen sein können. Dabei geht es um die Geschlechtsorgane, um körperliche Merkmale wie breite Schultern oder Bartwuchs, um die sexuelle Orientierung und viertens um weitere psychische Eigenschaften.  Nach Hirschfeld mischen sich diese Ebenen bei jedem Menschen unterschiedlich, so dass „Mischformen in ausserordentlicher Mannifaltigkeit“ entstünden, bis hin zu „Männer mit weiblichen und Frauen mit männlichen Geschlechtsteilen“, wie er 1899 schrieb.

Magnus Hirschfeld vor seiner Bibliothek.
Magnus Hirschfeld vor seiner Bibliothek.

© Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin

Hirschfelds absoluter Glaube an die Biologie sei aus heutiger Sicht durchaus kritisch zu betrachten, sagt Dose. So war Hirschfeld überzeugt davon, dass die sexuelle Orientierung stark von Hormonen beeinflusst wird und dass sie sich anhand von körperlichen Merkmalen feststellen ließe. Das Ziel dahinter sei immer gewesen, für die Entkriminalisierung von Homosexualität zu kämpfen. „Was natürlich ist, kann nicht unsittlich sein, war seine Überlegung“, sagt Dose. Dass diese Forschungsergebnisse durchaus auch von der Gegenseite instrumentalisiert und zu Zwecken der Eugenik genutzt werden könnten, reflektierte Hirschfeld wenig.

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Trotz dieser Kritikpunkte war Hirschfelds Arbeit revolutionär. Er war der einzige in Europa, der sich mit Fragen der Inter- und Transsexualität beschäftige, die er damals „extreme Transvestiten“ nannte. Das Institut für Sexualwissenschaft führte 1930 die erste geschlechtsangleichende Operation an Lili Elbe durch, Hirschfeld fungierte dabei als Berater. Vor allem aber ging es darum, Homo- und Transsexuelle aus der Einsamkeit herauszuholen. Ralf Dose liegt ein Rezept aus dem Institut vor, auf dem nicht etwa ein Medikament, sondern eine Adresse von jemanden steht, an den sich der Patient wenden sollte. „Das ist die Erfindung der Selbsthilfegruppe, lange bevor es dieses Wort gab.“ Immer mehr entwickelte sich das Institut zu einer Begegnungsstätte, Intellektuelle und Künstler aus aller Welt pilgerten nach Berlin, um die Bibliothek und das Archiv zu sehen.

Das queere Kulturhaus tritt Hirschfelds Erbe an

Während der Weimarer Republik war das Institut politisch weitgehend akzeptiert, Politiker aus dem Reichstag wurden regelmäßig durch das Gebäude geführt. Doch als Hirschfeld 1930 zu einer Weltreise aufbrach, war das politische Klima bereits ein anderes. 1931 erreichte ihn in Indien die Warnung, dass er als Jude, Homosexueller und Sozialdemokrat seines Lebens in der Heimat nicht mehr sicher sei. Am 6. Mai 1933 wurde das Institut geplündert, große Teile der Bibliothek wurden auf dem Opernplatz verbrannt. Hirschfeld versuchte ohne Erfolg, sein Institut in Paris wiederaufzubauen. 1935 starb er alleine in seiner Wohnung in Nizza. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse waren daraufhin lange vergessen. Von den Büchern, die nicht verbrannt wurden, sind viele noch immer verschollen.

Inzwischen seien Hirschfeld und sein Institut zumindest im Feld der Medizingeschichte wieder ein Begriff, sagt Dose. Vor allem dank Vereinigungen wie der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und der Hirschfeld-Stiftung des Bundes, die 2011 errichtet wurde. Doch die akademische Sexualwissenschaft existiere als Disziplin kaum noch, so dass auch Hirschfelds Erkenntnisse wenig an Universitäten behandelt würden. Mit dem queeren Kulturhaus E2H soll zumindest das kulturelle Erbe des Instituts für Sexualwissenschaft wiederbelebt werden. Das Haus, das nach Hirschfeld und der lesbischen Aktivistin Johanna Elberskirchen benannt ist, soll 2022 im ehemaligen Taz-Gebäude am Checkpoint Charlie eröffnen – auch das Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft zieht dann dort ein.
- Gedenkveranstaltung am heutigen Freitag, Haus der Kulturen der Welt, ab 16 Uhr.

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