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Verrannt. In der westtürkischen Universitätsstadt Eskisehir, die als liberal gilt, wurde jetzt ein Festival verboten.

© IMAGO/GocherImagery

Türkei verbietet Festivals: Lebensstil-Polizei duldet kein Feiern

An diesem Wochenende wollten junge Türken erstmals seit drei Jahren ohne Pandemie-Verbote feiern. Doch die Behörden dulden keine Festivals – Kritiker sehen sogar eine „Lebensstil-Polizei“ am Werk.

Zehntausend Eintrittskarten waren bereits verkauft, einige der größten Stars der türkischen Rockmusik hatten sich für ein viertägiges Festival angesagt: Beim „Anadolu-Fest“ in der westtürkischen Universitätsstadt Eskisehir wollten junge Türken an diesem Wochenende erstmals seit drei Jahren den Frühling ohne Pandemie-Verbote feiern. Doch daraus wird jetzt nichts. Die Behörden verboten das Festival. Kritiker werfen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, einen Feldzug gegen Musik und westlichen Lebensstil zu führen.

Eskisehir, das mit seinen 900 000 Einwohnern auf halber Strecke zwischen Istanbul und Ankara liegt, ist eine liberale Großstadt mit vielen Studenten. Bürgermeister Yilmaz Büyükersen von der Oppositionspartei CHP regiert Eskisehir seit 23 Jahren. Doch mächtiger als der Bürgermeister ist der von der Zentralregierung eingesetzte Gouverneur Erol Ayyildiz, der jetzt fast alle Veranstaltungen in der Provinz bis zum 25. Mai verbot. Zur Begründung erklärte er, die öffentliche Ordnung müsse geschützt werden – vor welcher Gefahr, sagte er nicht.

Die Veranstalter des „Anadolu-Fests“ sind sicher, dass Ayyildiz mit seinem Verbot auf das geplante Musikwochenende zielte. Sie klagten gegen die Entscheidung und arbeiteten in der Hoffnung auf eine positive Gerichtsentscheidung weiter am Aufbau der Bühne. Als die Polizei auch das untersagte, verschoben die Organisatoren das Festival auf Juni. Ob es dann stattfinden kann, ist offen.

Erdogan-Kritiker sehen einen politischen Trend hinter dem Verbot. Der CHP-Abgeordnete Ali Mahir Basarir warf der Regierung vor, jeden zum Feind zu erklären, der nicht ihrem islamisch-konservativen Weltbild entspreche. Der Kolumnist Mehmet Yilmaz von der Nachrichtenplattform T24 schrieb, eine „Lebensstil-Polizei“ wolle den Türken eine islamische Ideologie aufzwingen.

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Hinweise darauf finden die Erdogan-Gegner nicht nur in Eskisehir. Im südtürkischen Adana wird seit Jahren ein traditionelles Straßenfest verboten, das dem Nationalschnaps Raki gewidmet war. In Istanbul leitete die Staatsanwaltschaft jetzt Ermittlungen gegen eine Gruppe junger Leute ein, die sich während des islamischen Fastenmonats zum Raki-Trinken trafen und Bilder der feucht-fröhlichen Runde in den sozialen Medien zeigten.

Abwehr verwerflicher Einflüsse auf die Jugend

Konservative Gruppen im südostanatolischen Batman liefen Sturm gegen das Gastspiel einer Sängerin, weil die Künstlerin mit ihren knappen Kleidern gegen die „Werte des Volkes“ verstoße. Ein nationalistischer Politiker schimpfte im Fernsehen über eine Schauspielerin, deren Ballkleid mit tiefem Ausschnitt eine „Straftat“ sei.

Die Abwehr von angeblich verwerflichen Einflüssen auf Kinder und Familien dient den Behörden häufig als Hebel. In den vergangenen Jahren wurden Festivals in der ganzen Türkei untersagt, weil sie von Alkoholfirmen gesponsert wurden oder weil Bier verkauft wurde. Seit 2013 nimmt die Türkei nicht mehr am Eurovision Song Contest teil und überträgt das Ereignis auch nicht mehr im Fernsehen.

Begründet wird das damit, dass bei dem Wettbewerb LGBT-Künstler auftreten – was zuschauenden Kindern nicht zuzumuten sei. Das Gouverneursamt in Istanbul verbietet seit Jahren die Pride-Umzüge der LGBT-Bewegung. Lokalpolitiker von Erdogans Partei AKP machen Alkohol-Läden in ihren Städten das Leben schwer.

Islamisch-konservative Kreise begrüßen den Kurs. Das Verbot des Festivals in Eskisehir habe verhindert, „dass junge Leute tagelang mit Alkohol und Drogen vergiftet“ würden und dass die Stadt Szenen der „moralischen Verwahrlosung“ erleben müsse, erklärte ein Zusammenschluss konservativer Gruppen.

Musikverbot nach 1 Uhr

Erdogan verfügte in der Pandemie ein generelles Musikverbot ab Mitternacht, das Diskotheken, Clubs und Live-Veranstalter schwer traf. Inzwischen gilt das Verbot zwar erst ab ein Uhr morgens, aber Musik und Tanz bis zum Morgenrot sind nach wie vor verboten. Was es gegen Musik in geschlossenen Räumen einzuwenden gebe, wenn zur späten Stunde die Lautstärke heruntergedreht werde, fragte Kolumnist Yilmaz. Er beantwortete seine Frage gleich selbst: Hier gehe es nicht um Lärmbelästigung, sondern darum, anderen Leuten vorzuschreiben, wie sie zu leben hätten.

Islamismus-Vorwürfe gegen den frommen Muslim Erdogan begleiten den Präsidenten seit dem Beginn seiner Karriere in den 1990er Jahren. Der Staatschef betont stets, in der Türkei könne jeder nach seiner Fasson glücklich werden. Doch er verfolgt gleichzeitig das Ziel, eine „fromme Jugend“ zu erziehen, und wirft seinen Gegnern vor, die religiösen Werte gläubiger Türken zu verhöhnen. Als Beispiel nennt er einen angeblichen Zwischenfall während der Gezi-Proteste von 2013. Damals hätten Demonstranten in einer Moschee Bier getrunken, sagte Erdogan erst kürzlich wieder – dabei hatte der Muezzin der Moschee die Geschichte schon vor Jahren als Märchen entlarvt.

Die Erinnerung an die Gezi-Demonstrationen spielen bei Festivalverboten wie in Eskisehir eine Rolle. Erdogan sagt, die Gezi-Protestwelle sei ein Putschversuch gewesen. Ein Istanbuler Gericht verurteilte im April neun Personen, weil sie angeblich die regierungsfeindlichen Proteste lenkten. Bis heute erinnern Massenversammlungen junger säkularer Türken die Regierung an das Trauma Gezi. „Die Angst der AKP ist noch frisch“, schrieb die Oppositionszeitung „BirGün“.

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