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„Noel Baba“ ist zur Ikone eines Kulturkampfes in der Türkei geworden.

© KERIM OKTEN/ dpa/dpaweb

Geschenke unterm Neujahrsbaum: Neuartige Silvesterbräuche sorgen für Streit in der Türkei

„Stille Nacht“, Baum und eine Nikolaus-Variante: Viele Türken feiern ein Silvesterfest, das an das christliche Weihnachten erinnert – zum Ärger der Religiösen.

Wer sind wir, zu welchem Kulturkreis gehören wir, und was hat Religion damit zu tun? Diese Fragen beschäftigen die Türkei, seit der Gründung der Republik vor 96 Jahren – doch neuerdings besonders stark zwischen Weihnachten und Silvester. Im Schein von Lichterketten und zu den Klängen von „Stille Nacht“ diskutiert das Land alle Jahre wieder: Kann denn Neujahr Sünde sein?

Begonnen hatte die Verwirrung vor etwa 20 Jahren, als Weihnachtsschmuck in der Türkei in Mode kam. Das Land blickte damals nach Westen, die Türken fieberten dem erhofften Beitritt zur Europäischen Union entgegen, und kulturell galt alles als erstrebenswert, was aus dem Westen kam. Kurz nach der Jahrtausendwende hielten Weihnachtsbäume, Christbaumkugeln und Lichterketten ihren Einzug in den türkischen Kommerz, und binnen weniger Jahre gehörte Weihnachtsschmuck zum guten Ton in der Türkei.

Das Weihnachtsfest selbst konnten die Türken aber schlecht adoptieren, weil sie überwiegend Muslime sind. Das kulturelle Beiwerk, vom Baum bis zu den Geschenken, wurde deshalb umgedeutet zum religiös neutralen Neujahrsfest. Die Lichterketten in den Innenstädten und Christbaumkugeln in Restaurants und Schaufenstern heißen in der Türkei daher „Neujahrsschmuck“. Geschenke werden am 31. Dezember unter dem „Neujahrsbaum“ ausgetauscht – so bürgerte es sich in den Großstädten des Landes ein. Der Weihnachtsmann, historisch eigentlich ein christlicher Bischof aus Anatolien, ist in der Türkei heute als „Noel Baba“ bekannt und bringt die Geschenke zum Jahreswechsel.

“Seither schwang das kulturelle Pendel der Türkei aber wieder nach Osten. Ermuntert von der islamisch-konservativen Gesellschaftspolitik der Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, holten islamistische Vereinigungen im letzten Jahrzehnt zum Gegenangriff aus. Muslimen sei das Feiern von christlichen Festen verboten, warnten Prediger und Aktivisten alle Jahre wieder - das sei „haram“, also sündig. Ein islamischer Jugendverein illustrierte die Warnung besonders anschaulich mit einem Plakat, auf dem ein muslimisch gekleideter Mann den Weihnachtsmann mit der Faust ins Gesicht schlägt.”

Ikonen eines türkischen Kulturkampfes

Was „Noel Baba“ und Christbaumkugeln mit dem Christentum zu tun haben soll, ist vielen Menschen schleierhaft – und erst recht, warum Neujahrsfeiern ein christlicher Brauch sein sollen? Heutzutage sind die türkischen Zeitungen zum Jahresende voller Artikel, die ihren Lesern den Unterschied zwischen Weihnachten und Neujahr zu erklären versuchen – und der Frage nachspüren, was man nun feiern dürfe und was nicht.

Weihnachtsmann und Christbaum sind inzwischen zu Ikonen des türkischen Kulturkampfes geworden. In Istanbul etwa stellt der oppositionell regierte Stadtbezirk Sisli einen Neujahrsbaum auf, während islamisch-konservativ regierte Stadtbezirke darauf verzichten. Über die Frage, was gefeiert werden darf, wird in der Türkei wie über so vieles noch länger gestritten werden, doch am Ende dürfte der Kommerz siegen. Denn Lichterketten, Christbaumkugeln und Neujahrs-Wichteln sind dem türkischen Einzelhandel inzwischen so lieb und teuer wie Valentinstag und Halloween der Branche in Europa.

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