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Zwischen Fett und Fasten: Zu viel Gewicht ist ungesund - zu wenig auch.

© Jens Kalaene/dpa

Essstörungen: Mangel im Überfluss

Menschen mit Essstörungen fallen besonders auf, wenn an den Festtagen Familien miteinander schlemmen. Doch Magersucht muss es auch schon in mittelalterlichen Klöstern gegeben haben.

Die Nahrungsaufnahme dient dem Überleben. Die vielen festlichen Gelegenheiten, die das Jahresende in unserer Kultur bietet, zeigen aber, dass Essen eine höchst komplizierte Angelegenheit ist: Da sitzen Freunde des fetten Gänsebratens neben Vegetariern und Veganern, die einen wollen das opulente Festtags-Frühstück und den nachmittäglichen Stollen genießen, die anderen Kalorien zählen. Vielfältige (echte und vermeintliche) Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind Thema für sich. Und zu allem Überfluss kommt noch die Sorge um Jugendliche hinzu, die in eine Essstörung abzudriften drohen.

„Essen ist nicht wie Atmen“, kommentiert der Biologe und Ernährungsforscher André Kleinridders vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam nüchtern. Da sind zunächst komplizierte Sondierungsgepräche zwischen Hormonen und Nervenzellen, die Gefühle von Hunger und Sättigung auslösen. Weil Hormone wie Leptin und Insulin rund zwanzig Minuten brauchen, bis sie im Zentralnervensystem ankommen, ist es ein gute Idee, langsam und mit Bedacht zu essen. Denn wer zu hastig schlingt, trickst das Sättigungsgefühl aus.

Nahrungsaufnahme allein als neurophysiologisch gesteuerte Balance zwischen kalorischem In- und Output zu betrachten, greift zu kurz. Denn Essen gehört zu den Tätigkeiten, die das Belohnungssystem im menschlichen Gehirn besonders effektiv anregen. Ob es der Schoko-Weihnachtsmann oder die Entenleber oder das Speisen in anregender Gesellschaft ist: Was Kicks verspricht, hängt auch von persönlichen Erfahrungen und Prägungen ab.

Bei einem Symposium der Schering- Stiftung und der Leibniz-Gemeinschaft kurz vor den Festtagen in Berlin wurde aber auch diskutiert, welchen Gewinn Menschen daraus ziehen können, sich beim Essen zu disziplinieren – oder wann sie die Kunst des Hungerns immer weiter perfektionieren, bis sie schließlich in eine lebensgefährliche Magersucht geraten.

Essstörungen sind ein Teil der Identität

Ärzte, Psychologen Verwandte und Freunde müssten anerkennen, dass die Magersucht im Leben der Betroffenen eine Bedeutung hat – und dass diese deshalb Angst haben, mit einer erfolgreichen Behandlung auch etwas zu verlieren, erklärte dort die Kinder- und Jugendpsychiaterin Beate Herpertz-Dahlmann von der Uni Aachen: „Viele haben ein vermindertes Selbstwertgefühl und sind der Überzeugung ,Ich bin nichts, wenn ich nicht dünn bin’.“ Typischerweise sind ihre Patientinnen Mädchen und junge Frauen mit einem hohen Verantwortungsbewusstsein, die hohe moralische Anforderungen an sich selbst stellen: „Es sind Menschen, die sich für andere einsetzen.“

Wenn alle Gedanken um Hunger und Essen kreisen, kann das krankhaft werden.

© Jacquie Boyd/imago/Ikon Images

Die Krankheit mit dem medizinischen Namen Anorexia nervosa (wörtlich: nervöse Appetitlosigkeit) ist lebensbedrohlich, doch sie zu bekommen ist für junge Mädchen nach wie vor die Ausnahme, nicht die Regel – betroffen ist jedes hundertste bis zweihundertste Mädchen. Wenn der Eindruck entsteht, Magersucht trete immer öfter auf, so liegt das an erhöhter Aufmerksamkeit und besserer Diagnostik. Und Magersucht wird heute bei immer jüngeren Mädchen diagnostiziert.

Neben gesellschaftlichen Schönheitsidealen ist dabei nach Untersuchungen der Psychologin Silja Vocks von der Universität Osnabrück der indirekte Einfluss der Eltern nicht zu unterschätzen: Je unzufriedener die Erwachsenen mit ihrem eigenen Körper sind, desto größer ist auch die Unzufriedenheit der Jugendlichen mit ihrem Aussehen. Der familiäre Esstisch, das kann man aus diesen Studien klar folgern, ist der schlechteste Ort, um als Mutter oder Vater Unzufriedenheit mit dem eigenen Gewicht und Aussehen (oder gar dem der Kinder) zu thematisieren. Eltern seien aber bei einer entwickelten Magersucht oder Ess-Brechsucht (Bulimie) die wichtigsten Ko-Therapeuten, so Herpertz-Dahlmann: „Wir fahren deshalb auch zu den Familien nach Hause.“

Eine Magersucht hat auch genetische Ursachen

Nicht alle Heranwachsenden werden auf abfällige Bemerkungen oder erhöhten Konsum der TV-Show „Germany’s Next Top Model“ mit einer Essstörung reagieren. Nur bei anfälligen Personen wirken Schönheitsideale oder Diäten als Auslöser. Und solche Trigger gab es auch früher schon: Auch religiös motiviertes Fasten, das eigentlich der Sühne, der größeren Nähe zum Göttlichen und mystischen Erfahrungen dienen soll – und zudem streng zeitlich begrenzt ist –, könnte diesen Effekt haben. Zum Beispiel bei jungen Nonnen. „Es ist wahrscheinlich, dass das religiöse Fasten zur Anorexie führen kann. Denn bei einer entsprechenden genetischen Disposition ändert sich etwas im Körpergefühl zum ,Besseren’“, urteilt die Psychiaterin Regina Casper von der US-amerikanischen Stanford University.

Inzwischen ist erforscht, dass bei Magersucht auch die Gene eine Rolle spielen; genetische Veränderungen wurden in diesem Jahr auf Chromosom 12 gefunden.

Auffallend ist, dass es schon immer Berichte von jungen Frauen gebe, die unter extremen, zu Beginn religiös begründeten Nahrungseinschränkungen beträchtliche Energien entwickelten. Historisch war das zum Beispiel bei der im Jahr 1347 geborenen Heiligen Katharina von Siena so, die mit 16 Jahren begann, ausschließlich Wasser, Brot und rohes Gemüse zu sich zu nehmen, auf Brettern zu schlafen und sich mit einer eisernen Kette zu schlagen. Dass bei ihr das Fasten so extreme Ausmaße annahm, könnte auf Veranlagung basieren.

Schützend gegen das Krankheitsbild wirkt das männliche Geschlechtshormon Testosteron: Mädchen, die zusammen mit einem Zwillingsbruder im Bauch der Mutter heranreiften, sind besser gegen eine Magersucht gefeit als gleichgeschlechtliche Zwillingsschwestern und Einlinge.

Wenn es bei Männern dazu kommt, dass die Gedanken „suchtartig“ um Kalorien, Schlanksein und „gesundes“ Essen kreisen, geht dem, wie der Soziologe Robert Gugutzer von der Universität Frankfurt am Main berichtet, meist eine auf Leistung und Muskelaufbau fixierte Sportsucht voraus. Die „Selbstermächtigung durch harte Körperarbeit“ sieht der Professor für Sozialwissenschaften des Sports als „Ausdruck und Folge einer Suche nach männlicher Identität“. Keiner der 19 Männer, die Gugutzer zuletzt für eine qualitative Studie ausführlich über ihr Training, ihren Ernährungsplan und ihre Motive befragte, wünscht sich eine Therapie, keiner ist wegen extremen Untergewichts in Lebensgefahr. „Ich wäre deshalb zurückhaltend, Sportsucht als Krankheit zu bezeichnen.“

Hunger und Bewegung hängen evolutionär zusammen

Doch wie kann es dazu kommen, dass Sport für Menschen attraktiver wird als das Essen – das von ihnen bestenfalls noch als Mittel zum Zweck zugelassen wird? Auch Bewegung kann die Ausschüttung des „Belohnungs“-Botenstoffs Dopamin im Gehirn anregen. Aus der Grundlagenforschung ist zudem bekannt, dass sich bei Labormäusen eine Anorexia nervosa mit besonderem Bewegungsdrang entwickeln lässt: Das Laufrad zieht sie dann mehr an als der Futtertrog.

Die Biologin Tatjana Korotkova vom Max Planck-Institut für Stoffwechselforschung in Köln vermutet, dass Hungern und Bewegungsdrang evolutionsbiologisch zusammenhängen könnten. Schließlich waren unsere Vorfahren häufig gezwungen, weite Strecken zu gehen, um das knappe Gut Nahrung zu suchen – und durften anschließend nicht gleich komplett aufessen, was sie gefunden hatten.

Eine erfolgreiche Behandlung der Anorexia nervosa müsse dem Bewegungsdrang der Patientinnen deshalb entgegenkommen, fordert Herpertz-Dahlmann. Sie plädiert generell dafür, starre Therapieschemata zu verlassen und individuelle Vorlieben zu berücksichtigen. Pflegekräfte sollten nicht mehr als „Detektive“ eingesetzt werden und Mädchen, die bisher streng vegetarisch lebten, müssten nicht mehr mit Fleisch aufgepäppelt werden. Vor allem aber solle man ihre Verhaltensweisen nicht als Folge von Willkür oder bösen Absichten betrachten. „Wir müssen begreifen, dass ein biologischer Mechanismus dahinter steht“, sagt Herpertz-Dahlmann. „Unsere Patientinnen wollen uns nicht ärgern.“ Schon am familiären Esstisch kann diese Einsicht helfen.

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