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Eurovision: Lena und der Wolf

Schlechteste Quote, bestes Lied: Im Finale von „Unser Song für Deutschland“ gewinnt ein Klanggemälde.

Am Ende, als die Kamera an ihrem Teleskoparm über die Köpfe des applaudierenden Publikums hinweg zur Decke schwebte, um herauszugelangen aus diesem Fernsehgehäuse, da konnte auch Lena nicht mehr an sich halten: „Wie schöööön“, juchzte sie. „Und Ihr müsst diesen Song noch so oft hören!“

Ihr selbst schien diese Aussicht Freude zu bereiten. Und tatsächlich hätte es schlimmer kommen können für die Eurovision-Song-Contest-Gewinnerin des vergangenen Jahres, die ihren Titel am 14. Mai in Düsseldorf verteidigen will. Mit „Taken By A Stranger“ hat sich ein Lied in der Publikumsgunst durchgesetzt, das Lena als Sängerin nicht sonderlich viel abverlangt. Sie muss nicht die schwarze Souldiva geben, zu der Stefan Raab als ihr unerschütterlicher Mentor mit Eigenkompositionen wie „Mama Told Me“ oder „What Happened To Me“ sie machen wollte. Auch die heroische Balladensängerin bleibt ihr erspart, „Push Forward“, so ergreifend kühl dieser Song des Berliner Komponistenduos Daniel Schaub und Pär Lammers auch ist, hätte Lena gezwungen, eine Arena mit 36 000 Menschen nur Kraft ihrer Stimme zu verzaubern. Und die ist nicht das Stärkste, was sie hat.

So stand „Taken By A Stranger“ schon als Favorit fest, bevor Lena sämtliche zwölf Lieder ihres zeitgleich erschienen Albums bei „Unser Song für Deutschland“ vorgestellt hatte. Ein Stück, das mehr Geräuschbild ist als Popnummer, eingereicht von dem amerikanischen Songwriter Gus Seyffert, ohne Melodie und auch nur mit einem höchst monotonen Elektrobeat ausgestattet. Aber es formuliert ein Versprechen. Und das ist auch Lena – ein Pakt mit der Zukunft, der nicht auf Kosten der Künstlerin, sondern zum Vorteil aller geschlossen wurde: Lena darf noch einmal antreten, um nicht als tragisches One-Hit-Wonder versenkt zu werden.

Und was haben wir davon? Abgesehen von der drohenden Blamage, die der deutschen Fernsehrepublik mit dieser Wahl des Eurovision-Songs erspart bleiben dürfte, haben wir Lena auch eine schwere künstlerische Bürde aufgehalst. Denn „Taken By A Stranger“ pointiert eine Seite der 19-jährigen Sängerin, die sie noch gar nicht gezeigt hat: Das von dunklen Ahnungen, von Ängsten zerrissene Wesen, das im Strudel all der fremden Kräfte, die es beeinflussen wollen, um seine Fassung ringt. Der Song sei, sagte Stefan Raab, „das moderne ,Peter und der Wolf‘“. Und das ist sehr wahr. Lena begegnet einem Wolf, sie flüstert mehr als dass sie singt, Winde brausen im Hintergrund auf, das Mädchen verführt, weil es selbst verführt wird.

Ein Krimi wird der Song genannt. Er wirkt vom ersten Augenblick an, unverkennbar, mit Einsetzen des Rhythmus, der wie bei Lenas erstem Hit „Satellite“ seine synthetische Herkunft deutlich herausstellt. Ob Jurypräsident Stefan Raab im Finale der Castingshow wirklich fürchten musste, dass seine Strategie für diese Wahl nicht aufgehen würde, ist fraglich angesichts des frenetischen Saaljubels, den „Taken By A Stranger“ stets auslöste. Dennoch gab der Entertainer diesmal jede Zurückhaltung auf. Dass er selbst mit zwei Stücken noch im Rennen war, schien ihn nicht mehr zu interessieren. Er wollte diesen anderen Song, „denn das ist, als würde man eine Wasserbombe in eine Oma-Bridge-Runde werfen“, sagte er – und hatte wohl auch dafür gesorgt, dass er dramaturgisch effektvoll an den Schluss gesetzt worden war.

Was Raab mit „Satellite“ eingeleitet hat, als sich in Oslo ein zeitgemäßer Popsong mit Indie-Appeal gegen all den Schlagertrash europäischer Randzonen durchsetzte, soll mit einem düsteren Klanggemälde aus dem urbanen Elektrobaukasten noch einmal überboten werden. Und es wird für Künstler anderer Nationen nun vermutlich schwer, sich gegenüber dem angedeuteten Minimaltechno-Flair des deutschen Beitrags nicht furchtbar alt vorzukommen. Ein weiterer Schritt auf Raabs Mission, den europäischen Sängerwettkampf nicht mehr als Spektakel der Popverlierer aussehen zu lassen.

Ist es da wichtig, dass die Einschaltquote mit 3,25 Millionen Zuschauern erneut hinter den Zahlen des Vorjahres zurückblieb? Vielleicht war es einfach zu mühsam, der Kür eines abstrakten Dreieinhalbminuten-Kunstwerks über insgesamt sechs Stunden zu folgen. Den Verdacht, dass er nun größenwahnsinnig werden könnte, parierte Stefan Raab in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Es gehe „nur um Entertainment und nichts weiter“, sagte er.

Aber das ist falsch. Es geht um gute Musik. Und das ist kein Spaß.

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