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In 37 Favelas sind Einheiten der Militärpolizei stationiert. Doch für Ruhe sorgen können sie kaum.

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Ein Jahr vor Olympia: In Rio wird wieder geschossen

Die Lage in Rio de Janeiro schien unter Kontrolle - doch ein Jahr vor den Olympischen Spielen kehrt die Gewalt zurück. Soziale Spannungen lassen sich nicht mit mehr Polizisten lösen.

Die Waffen sind zurück in Rio. Es genügt, in eine der zentral gelegenen Favelas der Stadt zu gehen, um sie zu bemerken: großkalibrige Pistolen, Schnellfeuergewehre aus den USA. Es sind junge Männer, Angehörige der Drogenkommandos, die sie zur Schau stellen. Und das häufig in Sichtweite von Beamten der Befriedungspolizei – die genau dies unterbinden sollen. Die Beobachtung passt zu der allgemeinen Befürchtung, dass Rio ein Jahr vor den Olympischen Spielen wieder unsicherer wird. Kritik richtet sich insbesondere gegen die unausgegorene Strategie zur Befriedung der rund 1000 Favelas. Besucht man etwa Morro da Providência, die älteste Favela Rios, gleich neben dem Hauptbahnhof gelegen, so scheint es, als ob die Polizei mit den Dealern einen Pakt geschlossen hat: Ihr verkauft dort drüben euren Stoff, wir stehen hier und spielen mit unseren Handys. Touristen, die mit der neuen Seilbahn auf den Favelahügel kommen – die Aussicht ist spektakulär –, werden angewiesen, keine Fotos von den jungen Männern zu machen, die sich auf einer historischen Treppe eingerichtet haben. Doch nicht nur sind Waffen und offener Drogenverkauf ins Stadtbild zurückgekehrt, es kommt auch wieder zu Schießereien zwischen den drei großen Drogenfraktionen, die um Territorien konkurrieren. Mindestens ebenso gefährlich sind die Milizen aus ehemaligen Polizisten und Soldaten, die die Peripherie Rios brutal beherrschen, wo sie Schutzgelder erpressen. Auch die Polizei wird wieder häufiger angegriffen und wartet ihrerseits mit spektakulären Festnahmen und getöteten Drogenchefs auf. Schaut man also in diesen Tagen die Abendnachrichten, dann reißen die Sensationsberichte nicht ab und man bekommt den Eindruck, dass Rio de Janeiro sich im Kreis bewegt. Dass es gerade wieder zu der extrem gewalttätigen und gefährlichen Stadt der Vergangenheit wird.

Dabei sah es einmal so aus, als ob Rio zur Ruhe kommen könnte. Es war 2008, als die erste Einheit der Befriedungspolizei UPP in der kleinen Favela Santa Marta stationiert wurde. Sie sollte das Territorium, das von Drogengangs kontrolliert wurde, für den Staat zurückholen und – wenn auch nicht den Drogenhandel abschaffen – so doch für Ruhe sorgen und Gewalt unterbinden. Das gelang ihr recht schnell und weltweit wurde über den Erfolg berichtet.
So wurde die UPP zum zentralen Baustein in der Sicherheitsstrategie, die man im Hinblick auf die sportlichen Großereignisse Fußball-WM und Olympische Spiele plante. UPP-Einheiten sind heute in 37 Favelas stationiert, 700 000 Menschen leben in den betroffenen Gemeinden.

"Die Gesellschaft mag die Favelas"

Ein Mann war und ist für die Strategie verantwortlich: José Beltrame, Rios Sicherheitschef und Herr über die Polizei. Er galt als derjenige, der mit der UPP den Schlüssel zur Beruhigung der Metropole in der Hand zu halten schien. Aber nun ruft selbst Beltrame: Alarm! In Interviews sagt der 58-Jährige, dass Teile der Stadt Kriegsgebieten gleichen würden. Die drastische Wortwahl ist vor allem als Hilferuf zu verstehen. Beltrame hat begriffen, dass die Polizei nicht die sozialen Verwerfungen einer Stadt lösen kann, in der der Wohlstand nach wie vor geradezu pervers ungerecht verteilt ist. „Die Gesellschaft mag die Favelas, damit man eine Köchin, eine Putzfrau und eine Wäscherin hat“, wurde er deutlich. „Solange die Favelas als Ghettos betrachtet werden, wird man das Problem nicht lösen können. Hören Sie also auf, den Sicherheitskräften die Schuld zu geben.“ Beltrame ist zu Recht enttäuscht darüber, dass auf die Stationierung seiner UPP-Einheiten nicht die versprochene Verbesserung der Infrastruktur in den Favelas gefolgt ist. So kam weder die Müllabfuhr, noch kümmerte man sich um das Abwasser oder andere hygienische Missstände. Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sind nach wie vor rar.

Brasilianische Marines sollen ebenfalls für Ruhe sorgen. Doch der Gastgeber der kommenden Olympischen Spiele bekommt die Gewalt nicht in den Griff.

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All dies wurde jedoch in gewisser Weise kompensiert, weil die Armen in den Boomjahren Brasiliens häufiger Arbeit hatten, ihre ökonomische Situation verbessern konnten und das Gefühl bekamen, dazuzugehören. Nun, in der Wirtschaftskrise, tritt die soziale Apartheid Brasiliens wieder deutlich zutage. Die daraus resultierenden Spannungen löst man hier traditionell mit polizeilichen Methoden. Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit – so lautet die von Medien und Bevölkerungsmehrheit akzeptierte, sogar gefeierte Logik. Die Gründe interessieren nicht mehr, wegen derer Tausende Kinder und Jugendliche in die Reihen der Drogengangs eintreten oder zu Dieben und Mördern werden.
Beltrame beklagt also zu Recht, dass die UPP-Einheiten in den Favelas alleine gelassen werden. Zur Wahrheit gehört auch die miserable Ausbildung und Bezahlung der UPP-Beamten, ihre leichte Korrumpierbarkeit sowie Fälle von schweren Menschenrechtsverletzungen. Der Grund dafür ist ein Konstruktionsfehler: Die UPP wurde nie aus Rios verdorbener Militärpolizei ausgegliedert, die berüchtigt ist für Brutalität, Korpsgeist und faschistoides Gedankengut.
Ein aktueller Bericht von Amnesty International listet die vielen Tötungen auf, die von Rios Polizeibeamten verübt werden. Nicht wenige davon seien Exekutionen – und blieben dennoch straffrei. 2014 erschossen Polizisten 580 Menschen, 164 mehr als im Vorjahr.

Insgesamt aber nimmt die Zahl der Morde in Rio ab. Bis Juni dieses Jahres wurden 625 Morde registriert, der niedrigste Wert seit 2007. Ein Erfolg, den José Beltrame auf die Stationierung der UPP-Einheiten zurückführt. Gleichzeitig jedoch nehmen Diebstähle und Raubüberfälle zu, was das subjektive Unsicherheitsgefühl erhöht.
Die Besucher der Olympischen Spiele werden von den komplexen Sicherheitsproblemen Rios nur wenig mitbekommen. Sage und schreibe 85 000 Polizisten sollen für ihre Sicherheit sorgen. Das sind mehr als in Peking. Den ersten olympischen Rekord hat Rio damit schon.

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