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In Berlin kiffen bereits viele Jugendliche.

© dpa/Oliver Berg

Gründe für den Rausch: Eine Statistik erklärt den Griff zur Droge nicht

Das Phänomen Drogenkonsum wird immer noch zu isoliert betrachtet. Es gilt, das Ursachengeflecht aufzudröseln. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hannes Soltau

Schon wieder so schlimme Zahlen! Für Berlins Drogen- und Jugendschutzbeauftragte war der vergangene Donnerstag ein Tag der Sorgen. Grund war ein Bericht, den die Fachstelle für Suchtprävention vorstellte. Der zeigte auf, dass junge Menschen in Berlin deutlich häufiger als ihre Altersgenossen im restlichen Bundesgebiet Cannabis konsumieren – und auch noch deutlich früher damit anfangen.

Der übliche Automatismus nach Veröffentlichungen solcher Studien setzte ein: Experten sprachen von einer „besorgniserregenden Entwicklung“. Sie forderten den Ausbau suchtpräventiver Maßnahmen. Mehr Aufklärung, mehr Aufmerksamkeit, mehr Anti-Drogen-Programme. Wie so etwas in Berlin aussieht, war in der Pressemitteilung der Suchtprävention zu lesen. Im Projekt „Risiko erleben – Hoch hinaus! Sicher bis an die Grenze!“ sollen Jugendliche beim Klettern persönliche Stärken entdecken. Keine Antwort hingegen gab es auf die Frage: Warum kiffen so viele Jugendliche in Berlin?

Haben sie Langeweile, wollen sie Ältere durch cooles Getue beeindrucken oder kompensieren sie Frust, Stress, Ängste? Es gibt Studien, nach denen besonders jene Jugendlichen häufig Cannabis konsumieren, die in prekären sozialen Verhältnissen aufwachsen. Müsste Drogenpolitik also hier ansetzen?

Gin war mal das Gesöff der Elenden

Es gilt, das Ursachengeflecht aufzudröseln , um zu verstehen, was da passiert. Um zu verstehen, ob regelmäßig wiederkehrende Zahlen nur eine statistische Nonsens-Information sind oder ob sie auf einen Missstand hinweisen, auf den man reagieren muss. Nicht nur im Kleinen, auch im Großen. Drogenkonsum hat gesellschaftliche Begleitumstände.

Der Leipziger Wissenschaftler Robert Feustel verweist auf den 1751 vom englischen Maler William Hogarth angefertigten Kupferstich „Gin Lane“. Darauf zu sehen: eine betrunkene Frau, die ihr Kind fallen lässt, ein Mann, der sich erhängt, skeletthafte Körper, in der Ecke sitzend. Das Bild illustriert die Gin-Epidemie im 18. Jahrhundert, als durch gesellschaftliche Umbrüche verarmte Bevölkerungsschichten Erlösung im Gin suchten. Der Alkohol versprach Linderung der Hungersymptome, half beim Ertragen der Kälte und war eine wohltuende Flucht ins Vergessen. Er war das Gesöff der Elenden.

Heute ist Gin das Trendgetränk der Stunde und wird als Kulturgut verehrt. Das Verhältnis zu Rauschmitteln verändert sich und mit ihm die Maßstäbe der Bewertung und die Strategien des Umgangs.

Suche nach Ruhe

Umgekehrt ist der sozioökonomische Hintergrund ein entscheidender Faktor für das Suchtpotenzial. Statt aber vermehrt auf das ganze Bild zu schauen, wird das Phänomen Drogenkonsum noch immer zu isoliert betrachtet.

Auch in privilegierten Gesellschaftsschichten steigt der Drogenkonsum – dort als effektives Hilfsmittel zur Selbstoptimierung. In einer Gesellschaft, in der die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt, wird auch Drogenkonsum zweckorientiert eingesetzt. Kokain für die Leistungssteigerung, Ritalin für die Konzentrationsfähigkeit, LSD-Microdosing für die Kreativität.

Und Kiffen verhilft manch einem zur Ruhe nach einem stressigen Arbeitstag. Der Druck der modernen Gesellschaft offenbart sich auch in der Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme: Laut aktuellen Zahlen der DAK hat sie sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht. Und selbst in der Berliner Feierkultur erkennt Feustel den Optimierungswahn: Auch Partydrogen können ihm zufolge als Fortsetzung der Anforderung der Leistungsgesellschaft gewertet werden. Denn auch in den Clubs geht es um Effizienz und Steuerbarkeit: eine Pille für den Endorphinausstoß, eine Nase gegen die Erschöpfung.

Neugier, Experimentierfreude, Eskapismus, Selbstoptimierung, Hedonismus, Sucht. Die Gründe, aus denen Menschen Drogen konsumieren, sind vielfältig. Doch wer gleich bei aussageschwachen Statistiken stehen bleibt, dessen Präventivprogramme werden weiterhin ins Leere laufen. Und außer wiederkehrendem Alarmismus ist nichts gewonnen.

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