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Eine Straßenkatze im November in Istanbul. Von acht Uhr abends bis zehn Uhr morgens ist Sperrstunde.

© AFP

Einmal hingeschaut: Ein System ändern zu wollen, das ist in der Türkei wie Terrorismus

Ahmet Refii Dener über einen schwerwiegenden Systemfehler in der Türkei. Eine Kolumne.

„System“ ist im türkischen Sprachgebrauch ein gefährliches Wort, denn entweder ist man dafür oder dagegen. Die dritte Variante – es ändern zu wollen – ist umso gefährlicher. Ein System ändern zu wollen, das ist in der Türkei wie Terrorismus. Wenn in einem Land schon alle, die mit dem Alleinherrscher nicht einer Meinung sind, Terroristen genannt werden, kann man verstehen, wie riskant es ist, das Wort zu benutzen.

Eigentlich müsste man, um die Türkei voranzubringen, ein Ökosystem-System mit vielen Ökonomen und Wissenschaftlern schaffen. Dabei gibt es aber einen Haken, denn diese Menschen bräuchten, um effektiv arbeiten zu können, einen sicheren Ort. Einen Ort, an dem Vertrauen und Freiheit herrschen, und einen solchen findet man gerade in der Türkei nicht vor.

Kein Raum für Diskussionen

In der türkischen Gesellschaft herrscht die Erwartungshaltung vor, dass irgendwann irgendein Wunder geschieht und dann alles in Ordnung kommen beziehungsweise besser wird. Bezieht ein neuer Führer, Ministerpräsident, Minister oder neuer CEO in einem Unternehmen Position, sind automatisch hohe Erwartungen damit verknüpft. Wenn aber alle auf ein Wunder setzen, bleibt kein Raum mehr für Diskussionen, Gedanken und Platz fürs Weiterkommen.

Früher einmal gab es in der Türkei tatsächlich eine Diskussionskultur. Mit ihm da oben aber verschwand sie gänzlich von der Bildfläche. Wichtig ist nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Damit man ihn oder sie hochloben oder fertigmachen kann. Natürlich ist es gut, wenn Menschen ihre Erwartungen hoch ansetzen. Doch umso schlimmer ist der tiefe Fall, wenn man diese Ziele nicht erreicht. Wenn allesamt geschockt sind, dass es nicht so gekommen ist wie erhofft, verpufft auch der Zusammenhalt.

Wunder trat nicht ein

Ein Beispiel dafür sind die Spiele der türkischen Mannschaften, besonders die der Fußballnationalmannschaft, aus den Zeiten, in denen noch Zuschauer zugelassen waren. Bei einem Spielstand von 0:0 kennt die Euphorie keine Grenzen. Schießt dann aber die gegnerische Mannschaft ein Tor, wird es merklich stiller. Steht das Spiel irgendwann gar 0:2, ist die Luft gänzlich raus. Die Hoffnungen tendieren gegen null. Wieder einmal hatte man auf ein Wunder gehofft.

Das jährliche türkische Pro-Kopf-Einkommen konnte die 10.000-USD-Marke ewig nicht überspringen. Dabei wurde vor zehn bis 15 Jahren glatt das Zweieinhalbfache angepeilt. Die Exporte sollten die 500-Milliarden-USD-Grenze bis zum Jahr 2023 – dem 100. Geburtstag der Republik – geknackt haben. Auch hier ist nicht einmal die Hälfte erreicht worden. Warum? Die Verantwortlichen setzten auf Wunder und diese traten nun mal nicht ein.

Egal! Warum? Weil die Allgemeinheit immer davon ausgeht, dass der da oben schon weiß, was für das Land und seine Menschen richtig und gut ist. Der da oben. Oder der Geistliche. Oder der Vater. Oder der Familienälteste. Nur nicht hinterfragen und sich selber Gedanken machen – denn dann würde man als Terrorist abgestempelt werden.

Ahmet Refii Dener arbeitet als Türkei-Analyst. 2017 ist ARD, wie der Blogger (ichmeinsgut.de) genannt wird, nach Deutschland zurückgekehrt. Mittwochs schreibt er an dieser Stelle.

Ahmet Refii Dener

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