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Der Petersplatz und der Petersdom in Rom.

© ddp

Interview: "Die Kirche muss ihre Haltung zum Sex ändern"

Dass Priester missbrauchen, wird systematisch vertuscht – bis hoch zum Papst. Patrick Wall würde seine Tochter niemals auf eine katholische Schule schicken. Ein Interview mit dem ehemaligen Benediktinermönch.

Mister Wall, Sie haben als „Fixer“ für die katholische Kirche gearbeitet, als eine Art Problemlöser. Erinnern Sie sich noch daran, wie es anfing?

Oh ja, es war im August 1991, nach dem Morgengebet. Ich war Benediktinermönch in einem Kloster und gerade dabei, mir in meiner Zelle die Zähne zu putzen, als der Abt klopfte.

Was wollte er von Ihnen?

Es hatte in einer nahe gelegenen Gemeinde einen Missbrauchsfall gegeben, und der Priester dort sollte abgelöst werden – von mir. Ich packte meine Sachen und sechs Stunden später ging es los.

Ihre Aufgabe war es …

… für Ruhe zu sorgen und den Skandal zu ersticken, bevor er entstehen konnte. Das Tragische ist, dass die Kirche den jeweiligen Priester nicht abzog, sobald seine Verfehlung bekannt wurde – sondern erst, wenn ein Ersatz gefunden war. Dann hielt der alte Priester am Sonntag die letzte Messe, verschwand klammheimlich am Dienstag, und am Donnerstag stand ich auf der Matte.

Die Gründe für Ihre Einsätze waren stets dieselben?

Fast immer hatte ein Priester Kinder oder Jugendliche sexuell missbraucht. Einmal ging es um einen Abt, der ein Verhältnis mit einer Nonne hatte.

Gemeinden, Eltern – die alle haben das akzeptiert?

Ich habe kein einziges Mal erlebt, dass Eltern wütend auf mich oder die Kirche gewesen waren, weil jemand, der Kinder missbraucht hatte, in ihre Gemeinde versetzt worden war.

Was passierte mit den Priestern, die Sie ersetzten?

Sie wurden zwar oft aus der betroffenen Gemeinde abgezogen, aber nie exkommuniziert oder der Justiz übergeben. Dazu wussten sie in der Regel zu viel über all die Verfehlungen der anderen Geistlichen. Die Bischöfe hatten Angst, dass bei einem Gerichtsprozess all die klerikalen Schandtaten ans Licht kämen. Deshalb wurden die Missbrauchstäter meist kurz in eine kirchliche Therapieeinrichtung gesteckt, bevor man sie wieder in eine andere Gemeinde entsandte. Das ist ja überall auf der Welt so passiert, auch in Deutschland.

So wie im Fall „Peter H.“?

Ja. 1980 wurde er von Essen nach München versetzt, da er Kinder sexuell missbraucht hatte. Der Erzbischof von München und Freising war damals Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt. Er bewilligte die Versetzung, und ich bin mir sicher, dass er auch darüber im Bilde war, dass H. bald darauf wieder in der Gemeindearbeit eingesetzt wurde.

Ein Schritt, für den der damalige Generalvikar Gruber die alleinige Verantwortung übernommen hat.

Das ist völliger Unsinn. Um einen Priester wie H. zu Therapiezwecken zu versetzen, muss der Bischof oder Erzbischof informiert sein. Gruber hat sich geopfert. Er mag eine Unterschrift geleistet haben, doch er hatte gar nicht die Autorität, so etwas ohne das Wissen von Ratzinger zu tun.

1982 hat Ratzinger seine Gemeinde verlassen, um nach Rom zu gehen und im Vatikan zu arbeiten.

Richtig. Trotzdem ist es ein Skandal, dass ein Priester, der sich sexuell an Kindern vergangen hat, wieder in der Seelsorge arbeiten durfte. Selbst nachdem H. 1986 von einem Gericht wegen Missbrauchs Minderjähriger zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, durfte er nach einer Versetzung weiter in der Gemeindearbeit tätig sein. Jeder, der sich mit pädophilen Tätern auskennt, weiß, dass die Behauptung, der zweimal überführte Täter habe danach bis zu diesem Jahr brav zölibatär gelebt, reines Wunschdenken ist.

Was sind das für Menschen?

Soziopathen, die aufgrund einer psychischen Störung über keine Selbstkontrolle verfügen. Egal, was sie einem erzählen: Sie können nicht damit aufhören. Ich habe diese Leute kennengelernt und mich wissenschaftlich mit Pädophilie beschäftigt.

Ihr Job war es, sexuellen Missbrauch zu vertuschen.

Anfangs dachte ich, es sei die Aufgabe, die Gott für mich vorgesehen hätte. Gleichzeitig machte ich eine Blitzkarriere: Ich saß im Finanzausschuss, war Teil des Kirchentribunals, beriet den Erzbischof. Das gab mir mit meinen 28 Jahren ein gutes Gefühl, eins von Bedeutsamkeit. Gleichzeitig verzweifelte ich an meiner Situation: Ich erfuhr all diese furchtbaren Dinge – und hatte die unbedingte Verpflichtung zu schweigen. Dieses Dilemma macht vielen Priestern zu schaffen.

Haben Sie in all den Jahren nie versucht, Ihre Vorgesetzten dazu zu bringen, mit diesen Vertuschungen aufzuhören?

Im Privaten ja. Aber ohne Erfolg. Ich habe auch mehrfach Beschwerden eingereicht, wenn ich erfuhr, dass ein Priester, den ich ersetzt hatte, wieder in der Seelsorge tätig war. Aber das fiel stets auf taube Ohren. Das war auch der Hauptgrund, warum ich irgendwann mein Amt niederlegte.

Leicht kann das nicht gewesen sein.

Von dem Moment an, wenn man bekannt gibt, dass man das Priesteramt niederlegen will, wird man ein Abtrünniger, ein Fremdkörper für genau die Gruppe von Menschen, mit denen man – wie in meinem Fall – 15 Jahre verbracht hat. Ich bin im Januar 1998 ausgeschieden und stand erst einmal vor dem Nichts. Kein Geld, keine Arbeit, keine Freunde. Solange man im Schoß der Kirche geborgen ist, muss man sich um all diese Dinge wie Rentenversicherung keine Gedanken machen. Dazu kommt, dass es in den USA nicht einfach ist, mit einem Theologiestudium einen neuen Job zu finden.

Fühlten Sie sich zum Priester berufen?

Wir lebten in einer kleinen Stadt namens Lake City in Minnesota, und dort gab es viele junge Männer, die Priester wurden. Der Gedanke, selbst einer zu werden, kam mir während der High School. Ich sah mir verschiedene Orden an und entschied mich schließlich für die Benediktiner, die in der Nähe ein großes Kloster mit Universität hatten. Dort konnte ich gleichzeitig Mönch, Student und Football-Spieler sein. Es schien perfekt!

Stammen Sie aus einer gläubigen Familie?

Oh ja, meine Familie war erzkatholisch: Mein Großonkel war Priester, viele meiner Tanten Nonnen. Die Kirche war das Zentrum unserer Familie: Ich war Messdiener, war im Chor, ging auf eine katholische Schule. Auch unsere Urlaube verbrachten wir stets an katholischen Sehenswürdigkeiten, besuchten Kirchen und Friedhöfe.

Eltern und Verwandte werden nicht gerade begeistert gewesen sein, als Sie die Mönchskutte auszogen.

Viele enttäuschte Priester bleiben der Kirche treu, weil sie wissen, dass ihre Familie sie nicht mit offenen Armen empfangen würde. Ich hatte Glück: Ich hatte meinen Eltern stets von meinen Fällen erzählt, und mein Vater konnte meinen Entschluss verstehen. Meine Mutter konnte die Wahrheit – dass seit den 1950ern mehr als 5000 Priester alleine in den USA Kinder missbraucht haben – einfach nicht ertragen. Leider lebt sie nicht mehr. Vielleicht würde sie es heute, in Anbetracht der öffentlich gewordenen Fälle, anders sehen.

Manche in der katholischen Kirche versuchen, die Missbrauchsfälle als Problem unserer Zeit darzustellen. Diese würden von einer „übersexualisierten Gesellschaft“ hervorgebracht.

Das ist falsch, ganz schrecklich falsch! Für das Buch „Sex, Priests & Secret Code“ habe ich mit zwei Kollegen intensiv in Kirchendokumenten recherchiert. Wir sahen, dass es sexuellen Missbrauch in der Kirche fast seit ihrem Bestehen gibt.

Haben Sie Belege für diese Behauptung?

Bereits bei der Synode von Elvira im Jahre 309 wurden Regelungen erlassen, wie mit Priestern zu verfahren sei, die sich an Kindern vergehen. Ein jüngeres Beispiel ist das Sacramentum Poenitentiae, das 1741 von Papst Benedikt XIV. erlassen wurde. Es ist also verlogen, um nicht zu sagen kriminell, wenn die Kirche behauptet, sexueller Missbrauch sei ein modernes Phänomen. Warum haben dann in fast jedem Jahrhundert Päpste ein Edikt nach dem anderen veröffentlicht, das sich mit sexuellem Missbrauch beschäftigt?

Aber die Kirche hat immerhin frühzeitig Regeln erlassen.

Es ist gut, das Problem zu erkennen. Der nächste Schritt wäre gewesen, das sofort offen zuzugeben und die Opfer um Vergebung zu bitten. Und der dritte, dafür zu sorgen, dass die Dinge sich ändern. Aber genau diese Veränderung bleibt die Kirche schuldig. Stattdessen hält sie alles geheim, so lange sie kann.

Sie sehen eine Tradition des Verschleierns.

Ja. Die katholische Kirche versucht dadurch, ihre Macht zu sichern. Der Papst ist längst nicht mehr so einflussreich, wie er einst war. Die Kirche ist deshalb auf ihr Image bedacht – und verschweigt lieber Unrecht, als einen öffentlichen Skandal zu riskieren. So ist es etwa Bestandteil des Kirchenrechts, dass alle Beteiligten, die in einen Fall von sexuellem Missbrauch eingeweiht werden, eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen müssen. Diese sieht vor, dass sie exkommuniziert werden, wenn sie jemandem davon erzählen. Das wird mit dem Beichtgeheimnis begründet, führt aber dazu, dass pädophile Priester weitermachen können.

Es wird viel darüber diskutiert, inwieweit das Zölibat zu der hohen Anzahl von Missbrauchsfällen beiträgt. Was denken Sie?

Lassen Sie mich klarstellen: Die Mehrheit der katholischen Priester vergeht sich nicht an Kindern. Laut Studien tun dies sechs bis zehn Prozent. Doch die meisten Priester schaffen es nicht, völlig zölibatär zu leben. Sie haben Freundinnen, männliche Partner, manche fahren nach Las Vegas und lassen es dort krachen. Das Zölibat macht niemanden pädophil – es sorgt nur dafür, dass beinahe jeder etwas zu verbergen hat.

Fiel es Ihnen leicht, das Zölibat zu leben?

Absolut nicht, denn es ist unnatürlich. Es ist verboten, Sex zu haben, über Sex zu reden oder auch nur an Sex zu denken. Das ist – vor allem wenn man jung ist – genauso, als würde man den Leuten sagen, sie dürften nicht essen und trinken. Nach meiner Erfahrung scheitern beinahe alle Priester am Zölibat, oder sie flüchten in selbstzerstörerisches Verhalten: Sie betäuben ihren Trieb mit Alkohol, arbeiten sich besinnungslos oder fressen hemmungslos und werden dick wie Ballons.

Welchen Weg haben Sie gewählt?

Ich habe gearbeitet wie ein Geisteskranker. Ich hatte eine Gemeinde zu betreuen, studierte kanonisches Recht und arbeitete im Tribunal, ich saß in jeder Menge Ausschüssen … Wenn ich Priester geblieben wäre, hätte mich längst ein Herzinfarkt hingerafft. Aber der wirkliche Grund, warum die Kirche am Zölibat festhält, ist ganz simpel: Es ist billiger! Es ist viel einfacher, einem ledigen Priester zu sagen: „Pack deine Sachen, morgen früh fliegst du nach XY und übernimmst diesen oder jenen Job!“ Versuchen Sie das mal mit einem, der Ehefrau und Kinder hat!

Inzwischen haben Sie eine Familie und arbeiten als Anwalt für Missbrauchsopfer. Wie kam es dazu?

Nach meiner Zeit als Priester hatte ich Aushilfsjobs, unter anderem beim Jugendamt in San Diego, wo ich meine Frau kennenlernte. Seit 2002 arbeite ich für die Anwaltskanzlei Manly und Stewart, ungefähr die Hälfte unserer Anwälte hat sich auf Missbrauchsfälle spezialisiert. Es ist komisch, ich fühle mich heute mehr als Priester als je zuvor.

Bitte?

Die Menschen, die zu uns kommen, sind vollkommen zerstört. Für viele von ihnen war die Kirche das Wichtigste im Leben, und genau von ihr werden sie nicht nur missbraucht, sondern danach auch noch im Stich gelassen. Indem sie uns ihre Geschichte erzählen können, entkommen sie der dunklen Nacht, die in ihrer Seele herrscht. Weil ihnen jemand glaubt und sie unterstützt. Erst wenn sie es verarbeitet haben, können sie den Schrecken hinter sich lassen und ein glückliches Leben führen. Das gelingt glücklicherweise einem Großteil von ihnen – wir nennen sie lieber „Überlebende“ und nicht „Opfer“.

Wenden sich Menschen aus Deutschland an Sie?

Ja, die finden uns über das Internet. Wir haben gerade mehrere Klienten in Deutschland. Es sind Fälle in München – unter anderem eine Frau, die von einem Priester vergewaltigt wurde.

Hierzulande sorgte zuletzt der Skandal um Bischof Mixa für Aufregung, der Kinder geschlagen und zudem Geld zweckentfremdet hat. Er trat erst zurück und dann wieder von diesem Rücktritt zurück …

Ob alle Vorwürfe berechtigt sind, muss erst überprüft werden, mich würde es jedoch nicht überraschen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es zu einer Untersuchung kommt. Was ich jedoch mehrfach erlebt habe: Ein Bischof kann es schaffen, viele Verfehlungen zu vertuschen, nur keine finanziellen Dinge. Sobald er sich am Geld der Kirche zu schaffen macht, ist er erledigt.

Nun hat sich Papst Benedikt bei den Missbrauchsopfern entschuldigt. Ist die Kirche auf dem Weg, sich zu öffnen?

Dass ein Papst sich öffentlich entschuldigt, ist außerordentlich selten. Aber Worte sind nur eine Sache. Wenn keine Taten folgen, würde ich eher von einer Medienshow sprechen.

Was müsste sich ändern?

Die Kirche muss ihre Haltung zum Sex ändern. Außerdem muss sie aufhören, ihre Macht durch Geheimniskrämerei sichern zu wollen. Sie muss sich Laien öffnen. Und nicht zuletzt sollte die katholische Kirche ihr gesamtes Frauenbild überdenken. Denn sie gibt den Frauen – ob Eva oder Maria Magdalena – die Schuld am Bösen in der Welt.

Gehen Sie noch in die Kirche?

Nicht mehr. Vor etwa fünf Jahren bin ich ausgetreten. Ich konnte das nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren. Und der einzige Weg für mich, ein gläubiger Christ zu bleiben, war, diese Institution zu verlassen. Nicht Gott ist das Problem und auch nicht der Glaube: Die Institution ist das Problem.

Ermittlungen, Rücktritte, eine Entschuldigung des Papstes – hat sich die Situation nicht doch verbessert?

Sie denken zu optimistisch. Sagen wir so: Wir haben die Kleinkriminellen unter den Pädophilen entdeckt. Die Raffinierteren, die klerikale Mafia, sind immer noch da. Das Einzige, was besser wurde: Einem Kind, das von sexuellem Missbrauch erzählt, glaubt man heute eher. Die quasi-göttliche Aura der Priester ist verschwunden.

Sie haben eine achtjährige Tochter, die Sie ursprünglich auf eine katholische Schule schicken wollten. Sie haben Ihre Meinung geändert.

Ich habe an gut 1000 Fällen von sexuellem Missbrauch mitgearbeitet. Nach dem, was ich da erfahren habe, darf mein Kind nicht mal in die Nähe einer katholischen Kirche kommen.

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