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Teure Flaschen. Seit 2010 erhöhten sich die Raki-Steuern in der Türkei um 400 Prozent.

© picture alliance / dpa

70 Tote durch gepanschten Schnaps: Türken greifen wegen hoher Alkohol-Steuern zu mehr Fusel

Der Nationalschnaps Raki ist für viele Türken in der Coronakrise ein Luxusgut. Gepanschter Alkohol wird immer mehr zur gefährlichen Alternative.

Mehr als 18 Euro für eine Flasche Schnaps: Das war Soner Dolukan offenbar zu teuer. Der 48-jährige Fischer aus Kiyiköy an der Schwarzmeerküste im europäischen Teil der Türkei kaufte sich deshalb vorige Woche zusammen mit drei Kollegen ein paar Liter Roh-Alkohol, mischte sich seinen eigenen Schnaps und zechte mit seinen Kollegen am Hafen.

Soner Dolukan und zwei seiner Freunde starben an dem Fusel, der vierte kämpft im Krankenhaus um sein Leben. Gepanschter Schnaps hat allein in diesem Monat schon fast 70 Menschen in der Türkei getötet. Das sind nach Zahlen der Zeitung „Sözcü“ zweimal so viele Todesopfer wie in den letzten zwei Jahren zusammen. Die Opposition fordert eine Senkung der exorbitanten Alkohol-Steuern, doch die islamisch-konservative Regierung hat andere Prioritäten.

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Wie in anderen Ländern greifen auch in der Türkei wegen der Coronakrise mehr Menschen zur Flasche als normalerweise. Die Pandemie und hausgemachte Probleme haben die türkische Wirtschaft schwer getroffen. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 13,4 Prozent, aber Gewerkschaften schätzen die tatsächliche Quote auf das Doppelte. In einer Umfrage sagten sechs von zehn Türken kürzlich, ihnen gehe es wirtschaftlich schlechter als vor einem Jahr.

Die Raki-Steuern machen 70 Prozent des Preises aus

Millionen Türken müssen mit dem Mindestlohn von umgerechnet etwa 250 Euro im Monat auskommen. Bei diesem Einkommen ist eine Flasche des Nationalschnapses Raki mittlerweile ein Luxusgut. Seit 2010 hat der Staat die Steuern auf Raki um mehr als 400 Prozent erhöht – Steuern machen inzwischen 70 Prozent des Verkaufspreises aus. Trotz der Transportkosten ist der türkische Anisschnaps in Deutschland billiger als in seinem Heimatland.

Um trotz der hohen Preise hin und wieder Alkohol trinken zu können, brennen sich manche Türken wie der Fischer Dolukan ihren eigenen Schnaps. Andere werden zu Opfern krimineller Banden, die im großen Stil panschen und billig verkaufen. Die Probleme gibt es schon lange. Im Jahr 2009 starben drei deutsche Schüler in Antalya, nachdem sie gepanschten Alkohol getrunken hatten.

Doch so viele Tote in so kurzer Zeit hat es in der Türkei noch nie gegeben. Opfer werden vor allem aus den Küstengegenden der Türkei gemeldet – Regionen, in denen die Menschen mehr Alkohol trinken als in konservativen Gegenden Anatoliens. Fast jeden Tag hebt die Polizei irgendwo eine Schwarzbrennerei aus. In Istanbul stießen Beamte bei Razzien in nur einer Woche auf fast 3000 Liter verkaufsfertigen illegalen Schnaps.

„Die obszönen Steuern beim Alkohol sind tödlich“

Schwarz gebrannter Raki oder Whisky kann giftiges Methanol enthalten statt nur Ethanol, der gewünschten Form von Alkohol in Getränken. In einigen Fällen benutzen die Panscher als Grundlage auch hochprozentige Desinfektionsmittel, die wegen der Corona-Pandemie in größeren Mengen verkauft werden als sonst.

Der Staat selbst treibe den Schwarzbrennern die Kundschaft zu, sagt die Opposition. „Die obszönen Steuern beim Alkohol sind tödlich“, schrieb der Parlamentsabgeordnete Garo Paylan auf Twitter. Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan vermuten, dass dessen islamisch geprägte Regierungspartei AKP aus ideologischen Gründen handelt. Der Präsident selbst hat die Türken mehrmals aufgefordert, statt Raki das Joghurtgetränk Ayran zu trinken. Erdogans Regierung erhöhte in den vergangenen Jahren mehrmals die Alkohol-Steuern, verbot außerdem die Alkohol-Werbung und schränkte den Alkohol-Verkauf in Geschäften ein.

Diese Politik hat zwar dem Raki-Absatz geschadet, aber nicht dem Alkoholkonsum der Türken insgesamt. Nach Regierungsangaben ist der jährliche Raki-Verbrauch seit 2004 von 44 Millionen auf 28 Millionen Liter zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Nachfrage nach Wein auf 75 Millionen Liter fast verdreifacht. Auch Bier, Wodka und Whisky werden heute mehr getrunken als damals.

Zu einer Kursänderung bei den Alkohol-Steuern sieht Erdogan deshalb keinen Anlass. Statt Steuern zu senken, geht seine Regierung gegen Regelverstöße beim legalen Alkoholverkauf vor. Das Parlament von Ankara erhöhte die Geldstrafe für den nächtlichen Alkohol-Verkauf von 7000 auf 34.000 Euro.

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