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Der Zuschauer  muss sich in die Mystery-Serie „1899“ fallen lassen wie die Ärztin Maura Franklin (Emily Beecham). 

© Foto: Netflix

Netflix zeigt mit „1899“ einen „Dark“-Nachfolger: Ein Schiff wird kommen...

Die „Dark“-Macher Jantje Friese und Baran bo Odar gehen auf große Mystery-Fahrt. „1899“ ist die erste Serienproduktion aus dem speziellen 3D-StudioVolucap im Studio Babelsberg.

Die „Kerberos“ nimmt Kurs auf die neue Welt, nach New York geht die Fahrt und auf dem Deck der armen Passagiere blüht die Hoffnung, dass Amerika das gelobte Land sein wird. Aber auch auf dem Promenadendeck finden sich nicht wenige, die auf der Flucht sind – vor den Umständen, vor Verfolgung, vor der eigenen Gegenwart, vor den bösen Geistern. Noch bevor die Hälfte der Strecke geschafft ist, meldet der Ticker Signale von einem zweiten Schiff, das seit mehr als vier Monaten verschollen gilt: die „Prometheus“. Die „Kerberos“ ändert ihren Kurs. Es hebt an ein großes Mit- und Gegeneinander von Schall und Wahn.

Rätsel um die „Prometheus“

Kapitän Eyk Larsen (Andreas Pietschmann) ignoriert die Anweisung der Reederei, das Schiff zu versenken. Er geht an Bord der „Prometheus“, von den mehr als 1000 Passagieren keine Spur, nur ein kleiner Junge wird in einem Wandschrank entdeckt. Das Rätsel um den schweigsamen Jungen, um das Schiff, um die verschwundenen Passagiere und Besetzung ist nicht das erste in dieser Mystery-History-Drama-Serie, ausgedacht und realisiert von Jantje Friese und Baran bo Odar, die mit „Dark“ gezeigt haben, welche Meister ihres Faches sie sind.

Das neue Werk zieht alle Register des Genres: Ist die Tochter von Kapitän Larsen wirklich tot, warum begibt sich Ärztin Maura Franklin (Emily Beecham) auf die Passage, was steckt hinter dem Paar des eitlen Angel (Miguel Bernardeau) und seines angeblichen Bruders, von Pater Ramiro (José Pimentao)? Ling Yi (Isabella Wei) gibt vor, eine Japanerin zu sein, ihre Mutter Yuk Je (Gabby Wong) ist eine ehemalige Hure, da scheint die Prostituierten-Laufbahn der Tochter schon vorgezeichnet: Unglücklicher als Lucien (Jonas Bloquet) und Clémence (Mathilde Olivier) in ihren Flitterwochen kann ein Paar nicht sein.

Das Schiff ist ein Escape-Room, aus dem es offenbar kein Entkommen gibt. Und die Spuren, die offenkundigen und die verborgenen, das sind die Schleifspuren des Lebens in der Diversität des Personals.

Es setzt ein: das Spiel und Versteckspiel um Identitäten, Interessen und Identifikationen, angeführt von Kapitän und Ärztin. Der Satz der Sätze ist dieser: „Wir alle tragen Maske. Wir spielen alle was vor.“ Figuren des Schreckens und unserer Anteilnahme. Die Serie häuft Rätsel auf Rätsel, Spekulation auf Spekulation, verborgene Gänge, merkwürdige Käfer, da mal ein Hinweis, dort eine Enthüllung, Zipfel einer Lösung, noch größere Fragezeichen – „1899“ greift tief in den Genrebaukasten, wirkt wie ein Mystery-Musterkatalog. Ausgehend von der Monsterfrage: Was geschah auf der „Prometheus", die in ihrer majestätischen Unheimlichkeit noch eindrucksvoller wirkt als all die menschlichen Schattengestalten auf der „Kerberos“, deren Mannschaft alsbald an der Zurechnungsfähigkeit ihres Kapitän Larsen zweifelt. Eine Meuterei beginnt – und auf der bislang stockdunklen „Prometheus“ gehen die Lichter an.

„1899“ setzt auf offene Münder, auf offene Münder des Publikums, was sich gefälligst zu erschrecken hat, so vehement ist der Gruselstrudel, so partiell nur sind die Entdeckungen, Enthüllungen und Entitäten. Wer mit „1899“ begonnen hat, der stiert quasi aufs Ende, auf dass alle Rätsel decouvriert werden und sich die Überlebenden in die Arme fallen können. Unglück zu Glück, Erlösung – endlich, wahrscheinlich. Mystery lebt von der Möglichkeit, dass alles Irreale real, alles Mögliche unmöglich ist. Wo oben ist, wo unten ist, das wird neu vermessen.

Mit ihrer Melange aus schattenhaften Bildern, vorwärts pulsierendem Sound und mysteriösen Zeichen bewegen sich Friese und Odar in ihrem erfolgsträchtigen „Dark“-Habitat. Kein Moment ohne Symbolik: Von Beginn an werden Gegenstände, Reliquien, schillernde Käfer eingeführt, die mit den Figuren verbunden sind und deren Formen sich bisweilen in Teppichmustern, in Kleidern oder Accessoires widerspiegeln. Hier wächst zusammen, was zusammenwachsen muss: die Ebenen, die Örtlichen, Biographien und Schicksale der Passagiere und der Besatzung. Mag der sehr internationale Cast mit Schauspielern aus Spanien, Portugal, Dänemark oder Hongkong auch der internationalen Erfolgsorientierung geschuldet sein, so schält sich aus dem Pulk von Fremden alsbald eine eindringlich gespielte Formation heraus. Sind sie samt und sonders nur Teile eines dunklen Roulettes?

„1899“ pflügt durch einen Atlantik der Ängste und Alpträume, Ahnungen und Abgründe, konterkariert mit Hoffnungen und Träumen. Es verschmelzen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Ziel bleibt über die acht Folgen wohl unbekannt, unbekannt, auch dies ein Grundgesetz der Mystery.

Friese und Bo Ordar wissen zu triggern, ihre Unglücksfiguren heischen Mitleid und Daumendrücken, bei allem Irrlichtern schält sich ein zutiefst humaner Kern heraus: Wie entkomme ich meinem Unglück, wie überwinde ich mein Schicksal, homo homini lupus est muss ad absurdum geführt werden – wahrlich auf Teufel komm raus.

Andreas Pietschmann und Emily Beecham lassen tief blicken, und gerade die Ärztin Maura Franklin ist es, die Vernunft, Fortschritt aufs Wissen gründet, sie ist so tough wie klug, in all den Emotionen und Empathien der Verlorenen muss es einen Weg ans Licht geben. Maura ist die Heldin, auch weil der Rest von Besatzung und Passagieren sich gerne eigener Verwirrung und Verwirrtheit anheimgibt.

Eine Tür ist eine Tür ist eine und keine Tür, in dieser Doppelhelix von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit oszilliert „1899“, und wer das Leben sowieso schon als Mischung aus Achterbahn und Geisterbahn erkannt hat, der wird bestens bedient (und eine zweite Staffel höchstwahrscheinlich).

Der andere Teil wird lieber mit dem „Traumschiff“ über den Ozean des Lebens schippern. Ist auch eine Mystery, wenn auch eine ganz andere: Hier fügt sich alles, aber auch wirklich alles zwischenmenschlich so zusammen, dass das „Kapitänsdinner“ unbeschwert und mit großem Hallo starten kann.

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