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Demonstration zum Frauentag in Neu Delhi

© picture alliance/Manish Swarup/AP/dpa

"Weibliche Schwäche" ist eine Lüge: Mein Körper ist voll gerechtem Zorn

Es braucht viel Kraft, um in einer Welt zu leben, die voller Frauenhass ist. Ein Gastessay aus unserer Serie „Was ist Macht?“.

Sophie Mackintosh ist Schriftstellerin. Ihr erster Roman "The Water Cure" war auf der Longlist des Man Booker International Prize 2018. Ihr zweites Werk "Blue Ticket" erscheint nächstes Jahr. In unserer Sommerserie zur Frage „Was ist Macht?“ veröffentlichen wir Texte der „The New York Times“-Reihe „The Big Ideas“. Bereits erschienen: Ex-US-General Wesley Clark zur Frage von Moral und militärischer Macht und die Philosophen David Beaver und Jason Stanley zur Macht der Rhetorik. Übersetzung aus dem Englischen: Anna Thewalt.

Ich schrieb meinen ersten Roman in einer Zeit, in der ich mich machtlos fühlte. 2016 war ich 27 Jahre alt, und in der Öffentlichkeit fand eine Abrechnung mit dem weiblichen Körper statt, die mich auch persönlich traf. Ich hatte mich für so lange Zeit schon machtlos in meinem eigenen Körper gefühlt, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits Wohlgefallen an der Passivität gefunden hatte, der Form halber. Ich hatte eine vage Ahnung davon, dass es irgendwo ein stärkeres Ich von mir gab, aber ich konnte es kaum sehen oder mich daran erinnern. Ich fühlte mich schutzlos, ängstlich.

Während ich mein Buch schrieb, wurde meine eigene Sicht auf mich selbst offenbar, und ich fühlte mich eine Zeitlang noch schlechter. Aber das Schreiben half mir, mich zu öffnen und eine Brücke von der Macht zur Machtlosigkeit schlagen zu können. Ich schrieb, und andere lasen – meine Worte hatten eine Kraft. Zugleich bedeutet einen Körper zu haben, vor allem als Frau: Man nimmt den Raum wahr zwischen Macht und Machtlosigkeit, definiert durch die Norm, auf der unsere Welt aufgebaut ist – auf dem Körper des weißen Cisgender-Mannes, also eines Mannes, der als Mann geboren ist und sich auch als solcher fühlt.

Man muss bedenken, wie viel Kraft es braucht, in einer Welt zu leben, die voll von Frauenhass ist. Was für eine mentale Belastung es bedeutet, ständig zu erleben, wie einem Schaden zugefügt wird. Mit dieser Perspektive wird die Idee von weiblicher Schwäche als Betrug entlarvt, als gezieltes Herunterspielen der Macht, die Teil des Konzepts der hysterischen Frau ist, der entsetzlichen Frau, die zu Recht wütend ist.

Nicht-männlicher Schmerz wird unterschätzt

Wir können die Tatsache nicht leugnen, dass nicht-männlicher Schmerz unterschätzt wird. Das ist gut belegt, selbst in einer Welt, in der Schmerzmessungen schwammig und notwendigerweise abhängig vom persönlichen Empfinden des Einzelnen sind. Ich habe selbst erlebt, wie Freundinnen von Ärzten wiederholt nicht ernst genommen wurden. Eine Freundin musste sich beispielsweise von einem männlichen Arzt anhören, sie würde überreagieren, was den Schmerz ihrer orangengroßen, aufgeplatzten Zyste betreffe.

Männer mit Herzinfarkten stellen ihre Symptome anders dar als Frauen, weswegen die Herzerkrankungen Letzterer häufiger nicht erkannt werden. Das ist Macht. Ich höre und lese Geschichten von Fehlgeburten und von Arbeitsverletzungen, die kaputte Becken, posttraumatische Belastungsstörungen oder Inkontinenz verursachen, aber ich muss diese Geschichten recherchieren, oder sie werden mir hinter vorgehaltener Hand erzählt, als ob es eine Verschwörung wäre, über solche Dinge zu sprechen. Auch das ist Macht.

Und dann gibt es Arbeitsplätze, bei denen Unterschiede nicht existieren dürfen, sondern bei denen alles immer noch auf den männlichen Standard ausgerichtet ist, Anerkennung ist darauf ebenso ausgerichtet wie Gesundheits- oder Sicherheitsmaßnahmen. Erst kürzlich scheiterten die Pläne der Nasa, einen ersten ausschließlich weiblichen Weltraumspaziergang durchzuführen, daran, dass es nicht genügend Anzüge in der richtigen Größe gab. An anderer Stelle sehen wir, dass weibliche Wut dämonisiert und männliche Wut beschwichtigt wird. Wir müssen immer wieder beweisen, wie ruhig wir sind, immer und immer wieder, wenn wir ernst genommen werden wollen.

Gewalt im Patriarchat ist nicht theoretisch

Ich denke über das Hintergrundgeräusch unseres kollektiven Bewusstseins im Patriarchat nach: Gewalt abzuschätzen, sich mit anderen abzusprechen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Es ist schwer, es zu überhören. Manchmal ist es nur ein Summen, manchmal ein Alarm. Gewalt im Patriarchat ist nicht theoretisch. Die Erinnerung daran lebt in meinem Körper, und sie lebt in zahllosen weiteren Körpern. Sie formt ihr eigenes Gewebe und ihre eigenen Knoten.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass auch Frauen selbst zu unserer Machtlosigkeit beitragen. In Großbritannien gibt es eine beunruhigende, steigende Anzahl an prominenten und etablierten Feministinnen, die alles auf die Biologie reduzieren, um die Erfahrungen von Trans*Menschen zurückzuweisen. Wenn Frauen sich an rechte, patriarchale Ideologien in Bezug auf das Recht, in seinem jeweiligen Körper zu existieren, anpassen, ist dies ein Schlüsselbeispiel, wie Privileg und Macht mit anderen Privilegien und Machtformen zusammenarbeiten. Frauen kollaborieren. Frauen reduzieren. Frauen können Macht stets auch destruktiv nutzen, und dies anzuerkennen – unsere Fähigkeit zu schaden – ist unabdingbar, wenn wir unsere eigene Macht besitzen wollen.

Sich von der männlichen Norm wegzubewegen bedeutet, sich zu öffnen, enger zusammenzurücken. Es erfordert, Körper zu akzeptieren und zu respektieren und neue Wege zu finden, damit sich Körper sicher fühlen können.

Für eine Welt, in der gerechter Zorn nicht missachtet wird

Ich denke an all die Sachen, die ich getan habe, um mich in meinem Körper sicherer zu fühlen. Die Phase, in der ich Gewichte hob, die hungernde Phase, die rücksichtslose Phase. Meinem Körper selbst schreckliche Dinge zuzufügen war ein Privileg. Nicht jeder kann den Weg der Selbstzerstörung gehen und wieder zurückkommen. All das für was? Machterfahrung, Grenzen austesten? Um zu wissen, dass, egal was äußerlich passiert, ich meine eigene Macht zumindest über etwas ausüben kann, über alles?

Ich habe Macht, natürlich. Ich hatte sie schon immer. Ich kann nichts Unmittelbares gegen das Hintergrundgeräusch machen; ich kann nicht so tun, als könnte ich die Gefahr, nachts allein durch einen Park zu laufen, ignorieren. Aber ich kann auch nicht mehr passiv sein. Durch den Schmerz habe ich die Kraft zu kämpfen. Ich habe einen Körper, der mich in allen Formen Macht erfahren lässt.

Ich kann meine eigene Macht verstehen, und ich kann mein Bestmögliches dafür tun, sie für das Gute zu nutzen, was auch immer das sein mag – andere nach meinen besten Möglichkeiten zu unterstützen, neue Schriftstellerinnen zu ermutigen, mein Geld und meine Zeit für diese Sache einzusetzen. Um für eine Welt zu arbeiten, in der gerechter Zorn nicht missachtet wird.

- Copyright: 2019 The New York Times and Sophie Mackintosh

Sophie Mackintosh

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