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Filmemacher Johnathan Hayoun

© Twitter @johnhayoun

Arte-Doku über Antisemitismus: Woher kommt der Hass?

Eine vierteilige Arte-Dokumentation rekonstruiert zwei Jahrtausende Antisemitismus.

Der erste historisch belegte gewalttätige Übergriff findet 38 n. Chr. statt. Die Juden, so formulierte es Apion, Leiter der Bibliothek von Alexandria in einer Hetzschrift, seien Schuld daran, dass Ägypten erst von den Persern, dann von den Griechen und schließlich von den Römern erobert wurde.

Woher stammt dieser Hass auf ein einziges Volk? Eine tief verwurzelte Feindschaft, die sich über Jahrtausende hinweg zuspitzte, zum Zivilisationsbruch des Holocausts führte und auch gegenwärtig nicht weniger wird? In seiner vierteiligen Dokumentation betreibt Jonathan Hayoun großen Aufwand, um diese komplexe Gemengelage über die Jahrhunderte hinweg zu entschlüsseln.

Augustinus’ Schrift „Vom Gottesstaat“ aus dem Jahr 426 formuliert erstmals das, was man heute Identitätspolitik nennen würde. Wenn Christen für sich die Deutungshoheit beanspruchen: Warum, so fragte sich der Kirchenvater, konvertieren die Juden nicht? Deren Alleinstellungsmerkmal wurde so zum Rätsel – und zum Stachel im Fleisch des Christentums.

„Mehr als 1000 Jahre“, so eine der Thesen des Vierteilers, „dient Augustinus’ Text als Referenz für die antijüdische Doktrin in Europa“. Die Dokumentation differenziert zwischen teilweise noch rationalem „Anti-Judaismus“ und dem auf ihn folgenden Antisemitismus. Letzterer basiert auf Stigmatisierung. Eine solche gab es bis ins späte Mittelalter noch nicht. Juden und Christen waren gleich gekleidet. Sie konnten untereinander heiraten. Juden konnten auf christlichen Friedhöfen bestattet werden. („Eine Geschichte des Antisemitismus“, Arte, Dienstag, 20 Uhr 15)

Erst im 13. Jahrhundert forderte Papst Innozenz III., dass Juden und Christen sich auch im öffentlichen Raum unterscheiden müssen. Die Ikonographie der Hakennase, das Tragen des „gelben Rings“ – eine Vorwegnahme des „Judensterns“ – und der Mythos, Juden würden christliches Kinderblut als Zutat für ihr Brot verwenden, wurden in dieser Epoche populär. Ein Seitenblick auf die Oberammergauer Passionsspiele verdeutlicht, dass die Darstellung von Juden mit „Teufelshörnern“ noch bis in die 1990er Jahre Bestandteil volkstümlicher Kunst war.

Antisemitischen Kehrtwende in der Sowjetunion

Versuche, Juden zu integrieren, zeitigte den gegenteiligen Effekt. So erweckte der rasche soziale Aufstieg integrierter Juden im Spanien des 15. Jahrhunderts ebenso Neid wie später in Frankreich, wo Juden nach der Französischen Revolution bürgerlich gleichgestellt waren.

Ein Jude wie Alfred Dryfus, dem eine Karriere als hohe Offizier offen stand, wurde zur Projektionsfigur eines mächtigen antisemitischen Verschwörungsmythos.

Eine segensreiche Zukunft schienen Juden im Sozialismus zu haben. Schließlich hatte Lenin 1919 den Antisemitismus als kapitalistische Ideologie gegeißelt. Doch das alte Muster wiederholte sich auch in der Sowjetunion: Juden schafften binnen kurzer Zeit den Aufstieg bis in hohe Staatsämter. Doch daraufhin stachelten konterrevolutionäre Strömungen den antisemitischen Argwohn in der Bevölkerung auf.

Unter diesen Antisemiten befand sich auch Alfred Rosenberg, der trotz seines Namen kein Jude war. Seine Verschwörungsideologie, der Sozialismus sei „ein Werkzeug des Judentums“, speiste sich aus den „Protokollen der Weisen von Zion“, rasch populär werdende fiktive Berichte über eine jüdische Weltverschwörung. Diese Pamphlete sind nicht unschuldig an der „antisemitischen Kehrtwende in der Sowjetunion“.

Die „Rosenberg-Protokolle“, die Hitler 1920 ausdrücklich erwähnte, lieferten ebenso die Blaupause für den nationalsozialistischen Rassenwahn. Mit den Nürnberger Rassengesetzen haben die Nazis ab 1935 Judenfeindlichkeit „auf jeden Aspekt der modernen Gesellschaft übertragen“.

Die Epoche nach dem Holocaust, die im vierten Teil der Dokumentation beleuchtet wird, widmet sich der Aufsplitterung in rechtsextreme Holocaustleugner, islamistischen und linken Antisemitismus. Letzterer kommt etwas kurz. Die BDS-Bewegung, die den Staat Israel boykottiert, wird nicht erwähnt. Bei den Illustrationen historischer Schlüsselereignisse greift die Dokumentation auf computeranimierte Szenen zurück, die wie aus einem nicht mehr ganz neuen Videospiel anmuten.

Davon abgesehen vermag diese akribisch argumentierende Vierteiler, der sich auf zahlreiche Historiker, Wissenschaftler und Experten stützt, durchaus zu überzeugen.

Manfred Riepe

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