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Kein Fenster zur Welt, sondern ein Zerrspiegel: Die Studie „Armutszeugnis. Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt“ beschäftigt sich mit TV-Formaten wie „Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern“.

© Tsp/TVNOW

Wie das Fernsehen mit armen Menschen umgeht: „Hier scheint Herablassung erlaubt zu sein“

Abwertende Klischees und Extremismus des Elends: Medienforscher Bernd Gäbler über die Armutsberichterstattung im Fernsehen. Ein Interview.

Herr Gäbler, Jan Böhmermann hat 2016 im „Neo Magazin Royal“ am Beispiel der Sendung „Schwiegertochter gesucht“ gezeigt, wie RTL Kandidaten vorführt und mit Klischees spielt. Sie haben jetzt für eine Abhandlung mit dem Titel „Armutszeugnis – Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt“ mehr als hundert Stunden RTL 2 geschaut. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Sozialreportagen, ja sogar Dokumentationen nennt RTL 2 seine zahlreichen Formate, in denen vor allem in sozialen Brennpunkten gefilmt wird. Darin ist zwar immer wieder die Rede von Zusammenhalt, tatsächlich werden die gezeigten Protagonisten aber hinterhältig vorgeführt und bloßgestellt. Gecastet werden besonders krasse Charaktere, gezeigt werden viele sehr kranke Menschen und die Kamera wühlt geradezu in einem Extremismus des Elends. Hier ist das Fernsehen kein Fenster zur Welt, sondern ein Zerrspiegel: Im Tarnkleid des Mitgefühls wird den Unterschichten ein abwertendes Klischeebild von sich selber vor Augen geführt.

Haben die Sender aus Enthüllungen wie der von Böhmermann nichts gelernt?
Inhaltlich nicht, aber sie lassen nun die Zulieferer, also die Produktionsfirmen, alle Verträge machen, so dass sie denen notfalls alle Verantwortung in die Schuhe schieben können.

Von der Gesellschaft wird die Armut ebenso ignoriert wie die medialen Klischees, schreiben Sie. Womit lässt sich diese Gleichgültigkeit erklären?
Das Vorbild dieser Art Armutsberichterstattung ist „Benefits Street“ aus Großbritannien. Dort gab es heftige öffentliche Debatten bis ins Unterhaus. Bei uns setzt sich die soziale Spaltung in medialen Parallelwelten fort, die sich kaum noch berühren. In der RTL-2-Sendung „Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern“ fallen wie selbstverständlich abwertende Vokabeln wie „faul“, „arbeitsscheu“, „leben auf Kosten der Allgemeinheit“, „soziale Hängematte“ etc. Würde irgendwo im Fernsehen mit anderen gesellschaftlichen Minderheiten so umgesprungen, gäbe es einen Aufschrei der Empörung.

[Bernd Gäbler: Armutszeugnis. Wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt; Das Arbeitspapier für die Otto Brenner Stiftung kann kostenlos bezogen werden über https://www.otto-brenner-stiftung.de]
Sind Sendungen wie „Hartz und herzlich“ nur besonders krasse Beispiele, oder führen andere Sender arme Menschen tatsächlich weniger stark vor?
Zumindest setzen sie einen Trend. Der größere Sender RTL, der stärker Unterhaltung für die gesamte Familie bieten will, überlegt noch, ob und wie er aufspringen will. Es gab eine Show, die als ,Sozialexperiment‘ firmierte: ausgesuchten Familien wurde vom Sender der Hartz-IV-Jahresbetrag geschenkt. Damit sollten sie sich selbständig machen. Man konnte ihnen beim Scheitern zusehen. Heinz Buschkowsky und Ilka Bessin haben sich für dieses zynische Format hergegeben. Noch ist unklar, ob RTL auf diesem Irrweg wirklich weitergehen will.

Bernd Gäbler lehrt als Professor für Journalismus und Krisenkommunikation an der FHM Bielefeld.
Bernd Gäbler lehrt als Professor für Journalismus und Krisenkommunikation an der FHM Bielefeld. Von August 2001 bis Ende 2005 war Gäbler Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts in Marl.

© Promo

Wie verhält es sich mit den Öffentlich-Rechtlichen?
Inhaltlich tatsächlich ganz anders: Erst gerade gab es bei „Monitor“ einen sehr guten Bericht über die Auswirkungen der Corona-Krise auf in Armut lebende Familien. Immer wieder gibt es einzelne bemerkenswerte Beiträge, Filme oder Dokumentationen. Sie wirken aber wenig koordiniert oder nachhaltig. In der Regelberichterstattung konzentrieren sich solche Beiträge stark auf die Vorweihnachtszeit. Das keineswegs triviale Problem: Sie erreichen meist nicht die Betroffenen. Die fiktionalen Produktionen dagegen, Krimis und Fernsehfilme, scheinen bei uns weitgehend eine Angelegenheit der wohlhabenden Mittelschichten zu sein. Es gibt keine mit England oder Frankreich vergleichbare Tradition des sozialrealistischen Films.

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Sich über sozial Schwächere zu erheben, dafür gibt es mit Social Degradation einen eigenen Anglizismus. Wie groß ist das Problem?
Sehr groß. Hier scheint eine Herablassung erlaubt zu sein, die ansonsten verpönt ist. Ich glaube, dass die kulturelle Differenz zu den unteren Schichten inzwischen noch viel größer ist als der Einkommensunterschied. Sie wohnen separiert, selbst beim Einkaufen oder in der Freizeit bleiben sie unter sich. Es gibt keinen schichtübergreifenden Austausch, deshalb versagt gegenüber den Armen die ansonsten so ausgeprägte Achtsamkeit.

Wie kann mit dem Thema Armutsproblematik adäquat umgegangen werden?
Ich will und kann keinem Journalisten oder Filmproduzenten etwas vorschreiben: Aber es geht darum, harten Realismus mit Würde zu verbinden. Das ist kein Plädoyer für Schönfärberei, Journalisten, Sozialverbände und Betroffene sollten sich austauschen, Zeit und Interesse füreinander aufbringen. In Österreich hat die nationale Armutskonferenz einen „Leitfaden für eine respektvolle Armutsberichterstattung“ erarbeitet. So etwas könnte auch hierzulande hilfreich sein.

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