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Sehnsucht nach menschlicher Nähe: Die ergreifende Szene mit der argentinischen Tangotänzerin Corina Herrera (rechts) und ihrer Tanzpartnerin mutet beinahe kitschig an.

© Delfina D'Arminio/Spiegel TV

„Welt auf Abstand“: Der Sound der Pandemie

Der Arte-Dokumentarfilm „Welt auf Abstand“ ist eine bildgewaltige Reise durchs globale Corona-Jahr.

Ein wenig Optimismus kann gerade jetzt nicht schaden. Er sei überzeugt, sagt Soin Satoshi Fujio, dass die Menschen „eine Pandemie der Freundlichkeit, Liebe und Rücksicht auslösen“ könnten. Der buddhistische Priester aus Yokosuka bot während der Zeit des Lockdowns Zen-Meditationen per Videokonferenz an. In Japan gehe es nicht um Regeln wie im Westen, sagt Fujio. Sondern um die innere Haltung, andere nicht in eine unangenehme Lage zu bringen. „Sich nicht zu treffen, war ein Zeichen der Liebe.“

Anderswo war das nur bedingt möglich, weil die Menschen in engen Vierteln gedrängt zusammenleben und täglich ums Überleben kämpfen. Der Rapper Maccarão aus Rio de Janeiro nennt Isolation ein Privileg. „Die Bewohner der Favelas müssen arbeiten, damit sich die Elite isolieren kann“, sagt er. Die Kamera folgt ihm beim Gang durch eine der Favelas. Andere Einstellungen zeigen lange Reihen zugedeckter Toter, während ein Bagger die Gruben für die Leichen aushebt, und ein großes Gräberfeld mit einfachen Kreuzen. „Es ist bereits entschieden, wer lebt und wer stirbt“, erklärt Maccarão.

[„Welt auf Abstand“; Arte, Mittwoch, 21 Uhr 50]

Der japanische Priester und der brasilianische Rapper zählen zu dem guten Dutzend Protagonisten in dem Dokumentarfilm „Welt auf Abstand“, einer Art Weltreise durch das Corona-Jahr. Alle Kontinente sind vertreten, denn für das Virus gab es in der globalisierten Welt keine Grenzen.

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„Wir dachten, das ist bloß für Weiße. Zu uns kommt das nicht“, sagt Goodman Makanda aus Kapstadt. Dann erkrankte Makanda, der wegen eines Tuberkulose-Infekts nur mit einer Lunge lebt, doch an Covid-19. Diese Episode war eine der letzten Arbeiten des im Oktober verstorbenen Thilo Thielke, der über Jahrzehnte für verschiedene Medien wie „Spiegel“, „Stern“ und „FAZ“ aus Afrika berichtet hatte.

So ist „Welt auf Abstand“ ein Sammelwerk einzelner Porträts und Geschichten aus verschiedenen Erdteilen, produziert von Spiegel TV und vom Autoren-Duo Cristina Trebbi und Jobst Knigge trotz harter Schauplatz-Wechsel flüssig montiert. Die Pandemie aus verschiedenen Blickwinkeln, aber mit vielen, weltumspannenden Gemeinsamkeiten: Wie umgehen mit Angst und Einsamkeit? Was hilft im Lockdown-Alltag? Gibt es Positives, das sich aus diesem Jahr mitnehmen lässt? Für den französischen Schriftsteller Marc Lambron war es „ein seltsamer Moment: Der ganze Planet schlug wie nie zuvor im selben Rhythmus, im Rhythmus der Zahlen“.

Der Tod ist nahe

Der Film ist kein Protokoll, keine penible Aufzeichnung des Pandemie-Verlaufs, sondern eine oft bildgewaltige Komposition, häufig aus der Vogelperspektive, begleitet von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Die Wahl des Klassikers ist nicht besonders originell, dennoch fängt der Film gewissermaßen den Sound des Pandemie-Jahres ein. Der Tod ist nahe, wenn die Sirenen durch New Yorks Straßen heulen und die Leichen auf ratternden Betten aus den Krankenhäusern geschafft werden.

Kamera und Ton finden zugleich die „Poesie der Stille“ (Lambron). Zu Bildern von leeren Pariser Straßen hört man Vogelgezwitscher und das Zirpen der Grillen. Und die ergreifende, beinahe kitschig anmutende Szene, in der Tango-Lehrerin Corinna Herrera in Buenos Aires mit einer Partnerin in einer von Sonnenlicht durchfluteten Halle tanzt, steht für die Sehnsucht nach menschlicher Nähe.

In Hamburg vermisst auch Schulleiter Björn Lengwenus seine Schülerinnen und Schüler und wirkt ganz verloren auf dem großen, stillen Gelände. Als Ausgleich hat die Schule eine Art „digitalen Schulhof“ eingerichtet. Lengwenus präsentiert in einer „Late Night Show“ Videos, in denen Schülerinnen und Schüler wie bei einem Poetry Slam ihr Leben im Lockdown kommentieren. In Berlin ist die Club-Szene lahm gelegt, aber Anissa Eprinchard veranstaltet Open-Air-Raves, leider illegal.

Rund um den Globus liegen Schrecken und Schönheit nahe beieinander. Wie in Kolumbien, wo der Ort Juanchaco nach sieben Monaten ohne Tourismus aussieht, „als sei hier ein Hurricane durchgezogen“, wie einer der Bewohner, mit den Tränen ringend, sagt. Schwelgerisch breitet die Kamera jedoch die herrliche Natur aus, den verlassenen Strand und das Touristen-leere Meer. Nur eine Frau schaukelt allein in einem Boot auf dem Wasser und singt eine selbst komponierte Hymne. „Die Natur hat sich ausgeruht, weil wir Menschen in den Häusern geblieben sind“, sagt Helena Hinestroza. Und die Wale antworten, so legt es die Montage nahe, mit ihrem betörenden Gesang.

Mensch und Natur wieder eins – zu schön, um wahr zu sein.

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