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Tagebucheinträge wie die dieser 18-jährigen Stenotypistin erlauben einen weiteren Blick auf das Berliner Schicksalsjahr 1945.

© RBB, privat

Von den Nazis zur Antifa: Das Tagebuch Berlins des Jahres 1945

Von Goebbels bis Schukow, vom Flakhelfer zum Sowjet-Soldaten: Eine TV-Doku erzählt die Geschichte Berlins 1945 über Tagebucheinträge.

Was für ein Kontrast: Zuerst das Jahr 1941 in Berlin, eingefangen in den Bildern von „Symphonie einer Weltstadt“ von Leo de Laforgue. Regisseur Volker Heise beginnt seine Dokumentation „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“, die zunächst am Dienstag auf Arte und am Freitag im RBB-Fernsehen läuft, nicht von ungefähr mit den Luftaufnahmen aus diesem Film, der die Hauptstadt von Nazi-Deutschland auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht zeigt.

Danach folgen bei Heise die Bilder vom Januar 1945. Reichsmarschall Hermann Göring auf dem Weg zur Reichskanzlei, trotz Januarkälte fährt er in einer offenen Limousine, kurz sind die Schäden der letzten Bomberangriffe im Wochenschau-Bericht zu sehen, aber sie sind da und selbst dem mächtigen Nazi-Bonzen scheint der Anblick nachdenklich zu machen.

[„Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“, Arte, Dienstag um 20 Uhr 15, sowie im RBB-Fernsehen, Freitag um 20 Uhr 30]
Insgesamt 180 Minuten verwendet Heise auf die Tagebuch-Rückschau des Berliner Jahres 1945, angefangen von der Silvesternacht 1944/45 bis hin zum ersten Jahreswechsel nach der Kapitulation. Er stützt sich dabei weitgehend auf private Tagebücher, unter anderem einer 18-jährigen Stenotypistin und überzeugten Nationalsozialistin.

Angst vor Hitlers Geburtstag

Am 20. April schreibt sie: „Heute hat unser Führer Geburtstag. Wir haben schon Angst vor dem Tag. Man hört schon die Artillerie. Herr Doktor sagt, wir sollen Vertrauen und keine Angst haben, der Führer macht ein Experiment und ganz zum Schluss wendet sich doch alles noch zum Guten“. Am Ende des Jahres wird sie im Ostteil der Stadt für die Antifa arbeiten. „Im neuen Büro der Antifa macht das Arbeiten wirklich Spaß. Ich habe den Eindruck, sie wollen dasselbe wie die Nazis, nur unter anderem Namen.“

Die Schilderungen könnten unterschiedlicher kaum sein, so sehr unterscheidet sich das Leben des 15-jährigen Schülers, der in den letzten Kriegstagen als Flakhelfer auf den Hochbunker im Humboldthain verpflichtet wird, und der 35-jährigen Jüdin, der es gelang, in Berlin unterzutauchen, nachdem ihr Mann verhaftet wurde. Aber auch die verquere Sicht von Joseph Goebbels auf die Lage in Deutschland wird zitiert. Und auch von Marschall Schukow, dem späteren Befreier von Berlin, sind Zitate überliefert, ebenso wie von russischen Soldaten.

[Mehr Beiträge zum Jahrestag der Befreiung unter www.tagesspiegel.de/themen/zweiter-weltkrieg/]

Auf diese Weise erzählt „Berlin 1945“ von den Dauerbombardements auf die Hauptstadt, von der Angst vor der Roten Armee, von Volkssturm und Häuserkampf, von den letzten Tagen im Führerbunker, von der Kapitulation, von Siegesfeiern und den massenhaften Vergewaltigungen, von russischen Verordnungen und dem Abbau von Industrieanlagen zu Reparationszwecken, aber eben auch von den alltäglichen Gedanken, Sorgen und Befürchtungen der Menschen.

Der rote Faden des Films ist ein alter Kalender von 1945. Bemerkenswert daran ist auch dessen nationalsozialistische Prägung. Damit kein Volksgenosse den Marsch auf die Feldherrnhalle in München, die „Machtergreifung“ der NSDAP oder den „Anschluss des Sudetenlandes“ vergisst, werden diese Daten genauso behandelt wie heutzutage die bundeseinheitlichen Feiertage.

Vom "Stern von Rio" zu "Kolberg"

In den privaten Erinnerungen finden sich zudem immer wieder Verweise auf Kinobesuche, mal unterbrochen von Fliegerangriffen, mal von Stromausfällen. Es sind Filme wie „Stern von Rio“, die von Fernweh getragen wurden. Oder Veit Harlans „Kolberg“, jenes Durchhalteepos gegen einen übermächtigen Feind. Doch war die gegnerische Macht längst nicht so groß wie die der Alliierten, vermerkt einer der Tagebuchschreiber des Frühjahrs 1945.

Erstaunlich ist dabei, wie es Volker Heise gelingt, die subjektiven Eindrücke mit historischem Filmmaterial so zu unterlegen, als sei es speziell dafür aufgenommen worden – wobei der dokumentarische Wert mitunter recht eingeschränkt ist. Viele Bilder vom Vormarsch der Roten Armee auf Deutschland und von der Schlacht um die Hauptstadt von Nazi-Deutschland stammen zum Beispiel aus dem Film „Berlin“ des sowjetischen Regisseurs Juli Raisman. An der Authentizität der Tagebucheinträge und der dadurch entstehenden Nähe ändert das jedoch nichts.

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