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Tiefe Einblicke: Paul Auster lüftet ein Familiengeheimnis.

© Levy/Medea Film

TV-Doku über Paul Auster: Was wäre, wenn?

In einer TV-Dokumentation spricht Paul Auster erstaunlich offen über sein Schriftstellerleben. Und lüftet ein Familiengeheimnis.

„Schriftsteller sind seltsame Menschen. Alle Künstler sind seltsame Menschen. Wir tragen alle irgendwelche Verletzungen in uns, ob wir malen oder tanzen oder schreiben oder filmen, um diese Verwundungen der Welt zu zeigen.“ Der, der diese wahren Worte sagt, sitzt in einem blauen Stoffsessel, sein rechter Arm untermauert das Gesagte dabei stets mit weiter Geste, und mal sieht er die Gesprächspartnerin – es ist die Filmautorin Sabine Lidl – direkt an, mal sieht er irgendwohin, in eine entlegene Ecke des Wohnraums, sein Blick bekommt dabei etwas Verlorenes. Die großen Augen, sie sind vielleicht das physiognomische Markenzeichen dieses klugen Mannes, der in Lidls neuer, äußerst sehenswerter Dokumentation „Paul Auster – Was wäre wenn“ – neben anderen Interviewpartnern wie seiner Ehefrau, der Schriftstellerin Siri Hustvedt, und seinem Freund Wim Wenders – einen durchaus sehr persönlichen Einblick in seine Arbeit, in sein Denken und auch in sein Leben gewährt.

Ausgehend von Paul Austers im Jahr 2017 erschienenen Roman „4 3 2 1“ blickt der Film durch die Augen des Autors auf 70 Jahre amerikanische Geschichte und verbindet diese mit biografischen Meilensteinen des Schriftstellers. Der Roman ist ein 1250 Seiten umfassendes Epos, ein Panoptikum, vielleicht das Buch, das Auster selbst am wichtigsten ist. Er liest immer wieder einzelne Passagen aus diesem Buch vor, während die Kamera läuft. Passagen über den jungen Mann namens Archie Ferguson, dessen Leben er in insgesamt vier verschiedenen Varianten durchläuft. Die vier Lebensläufe sind miteinander verwoben, und stets stellt Auster die lebensphilosophische, schicksalhafte Frage: „Was wäre, wenn?“ Es geht auch um die Zufälle des Lebens. Ein New-York-Roman, ein Stoff über verschiedene Dekaden Amerikas, dieses Amerikas, dass der in Newark, New Jersey geborene Nachfahre jüdischer Einwanderer aus Galizien so sehr liebt. Die Tränen stehen ihm in seinen so großen Augen, wenn er über das neue Amerika unserer Gegenwart spricht, das, durch das sich ein Riss zieht, der immer größer zu werden droht – ganz ähnlich wie in Europa. In diesem Moment ist Austers Liebe zu seinem Land, sein Schmerz sehr spürbar.

Übereinandergelegte Schablonen

Wie sich das Leben und das Schreiben manches Mal decken, wie übereinandergelegte Schablonen, das ist auch in Austers sehr persönlichen, offenen Worten über seine schmerzliche Familiengeschichte präsent: So erzählt er vom Tod seines 66-jährigen Vaters 1979, und dass er, Auster, der dieser Tage am 3. Februar gerade 72 geworden ist, seinen eigenen Vater nunmehr um fünf, sechs Jahre überlebt habe. „Als ich 66 wurde, war das für mich, wie durch einen unsichtbaren Vorhang zu gehen.“ Er empfinde die Jahre jenseits des 66., jene Jahre also, die er nun länger lebe als sein Vater, als seltsam. „Man bewegt sich auf fremdem Terrain, wenn man älter wird als der eigene Vater.“

Auch erzählt Paul Auster die Geschichte seines Großvaters väterlicherseits, und es ist eine dunkle, von Schmerz durchzogene Familiengeschichte. Eines Tages, als sein Großvater eine neue Glühbirne in eine Deckenlampe schraubt und sein Vater als kleiner Junge unten steht, um ihn zu halten, da kommt Austers Großmutter in den Flur und erschießt ihren Mann. Jahre wusste Paul Auster nicht, wie sein Großvater, der nur 36 Jahre alt war, ums Leben kam, denn Austers Vater erzählte es ihm nicht. Er schwieg. Durch einen Zufall erfährt Auster den wahren Todesgrund, da hat sein eigener Vater noch acht, neun Jahre zu leben. Sie reden nie darüber. „Die Geschichte lag wie ein Schatten auf der Familie und hat die Austers geprägt.“ Sagt er, und blickt aus seinen großen, sanften Augen. Thilo Wydra

„Paul Auster – Was wäre wenn“, Arte, Mittwoch, 21 Uhr 50

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