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Fünf Monate nach der Enthüllung des Fälschungsskandals um Ex-"Spiegel"-Reporter Claas Relotius wurde jetzt der Abschlussbericht vorgelegt.

© imago/Steinach

„Ein verheerendes Bild“: „Spiegel“ präsentiert Abschlussbericht zu Relotius-Skandal

„Spiegel“-Aufklärungskommission legt Relotius-Abschlussbericht vor. Das Ergebnis: Hinweisen auf Fälschungen wurde zu langsam und mangelhaft nachgegangen.

Fünf Monate nach Bekanntwerden des Fälschungsskandals um den ehemaligen „Spiegel“-Reporter Claas Relotius hat das Hamburger Nachrichtenmagazin am Freitag den 17-seitigen Abschlussbericht der eingesetzten Aufklärungskommission vorgelegt. Dabei seien zwar keine Hinweise darauf gefunden worden, „dass jemand im Haus von den Fälschungen wusste, sie deckte oder gar an ihnen beteiligt war“, schreiben „Spiegel“-Chefredakteur Steffen Klusmann und Verlagsgeschäftsführer Thomas Hass. Aber: „Wir haben uns von Relotius einwickeln lassen und in einem Ausmaß Fehler gemacht, das gemessen an den Maßstäben dieses Hauses unwürdig ist“. Das Magazin sei viel zu langsam in die Gänge gekommen, als erste Zweifel aufkamen, und habe Relotius’ immer neuen Lügen zu lange geglaubt. „In seiner Verdichtung zeichnet der Bericht da ein verheerendes Bild.“

Das gilt insbesondere für die beiden Relotius-Förderer Matthias Geyer und Ullrich Fichtner. Demnach hatte Geyer als Leiter des Gesellschaftsressorts Relotius bereits im November 2018 mit den Vorwürfen seines Reporterkollegen Juan Moreno konfrontiert – ohne die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Statt dessen ließ Geyer Relotius weiterarbeiten, unter anderem für einen Aufmacher über den Klimawandel. In „drei nicht unwichtigen Teilen“ habe es darin erneut Fälschungen gegeben.

"Vielleicht schwerste publizistische Krise"

Das Nachrichtenmagazin hatte den Fälschungsskandal am 19. Dezember öffentlich gemacht. Von Relotius waren seit 2011 knapp 60 Texte im Heft und bei „Spiegel Online“ erschienen. Relotius selbst hatte sich nur über ein Schreiben seines Anwalts geäußert. „Unser Mandant hat bereits eingeräumt, dass er bei seinen Reportagen über mehrere Jahre hinweg vielfach Fakten falsch dargestellt, verfälscht und hinzuerfunden hat“, hieß es in dem Schreiben. „Das ist die vielleicht schwerste publizistische Krise beim ,Spiegel‘“, hatte Steffen Klusmann die Enthüllung kommentiert.
Der Kommission gehören die frühere „Berliner Zeitung“-Chefredakteurin Brigitte Fehrle sowie „Spiegel“-Nachrichtenchef Stefan Weigel und der kommissarische Blattmacher Clemens Höges an. Neben den Fälschungen von Relotius hat es der Kommission zufolge noch einen weiteren Fall gegeben, der einen Autor des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“ betrifft. Er hatte mehr als 40 Texte im „Spiegel“ und bei „Spiegel Online“ geschrieben. In einem davon konnten bewusste Fälschungen zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Der „Spiegel“ habe dem Qualitätsjournalismus in Deutschland mit dem Fall Relotius einen gewaltigen Imageschaden zugefügt, schreiben Klusmann und Hass weiter. Zu den Lehren daraus gehöre, dass die Sicherungsmechanismen fortan so organisiert würden, dass sie nahtlos funktionieren. „Wir richten eine unabhängige Ombudsstelle ein, die etwaigen Hinweisen auf Ungereimtheiten nachgehen soll, und wir überarbeiten unsere Recherche-, Dokumentations- und Erzählstandards.“

Erste personelle Konsequenzen hatte der „Spiegel“ bereits kurz nach dem Relotius-Skandal gezogen. Die Verträge mit zwei Führungskräften wurden zunächst eingefroren. Ullrich Fichtner wurde Reporter mit besonderen Aufgaben. Matthias Geyer arbeitet als Redakteur für besondere Aufgaben und kümmert sich im Auftrag von Blattmachern und Chefredaktion um die Textqualität. Die Leitung des Gesellschaftsressort hatte er auf eigenen Wunsch abgegeben. Eine persönliche Schuld an den Betrugsfällen habe es bei Geyer und Fichtner jedoch nicht gegeben, hatte „Spiegel“-Chefredakteur Klusmann in einem Zwischenbericht zur Aufklärung des Falls gesagt.

Fälschungen methodisch verschleiert

Relotius ist nach den Ergebnissen der Kommission methodisch vorgegangen, um seine Fälschungen zu verschleiern. Er hat Dokumentare durch Verweise auf nebensächliche Probleme abgelenkt, die Anfertigung von Übersetzungen nicht zugelassen, Making-of-Videos abgelehnt und des öfteren den Abdruck von entlarvenden Leserbriefen verhindert. Es habe verschiedene Hinweise und Warnungen gegeben, die Anlass zu Misstrauen gegeben hätten, von denen einige eher vage, andere deutlich klarer gewesen seien, so die Kommission. Drei Warnungen seien so deutlich gewesen, dass sie Relotius – zumindest theoretisch – hätten stoppen können. Darunter neben einem Leserbrief die Hinweise seines Reporterkollegen Juan Moreno nach der Veröffentlichung des Textes „Jaegers Grenze“ über eine US-Bürgerwehr an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, der im November 2018 erschien.

Morenos Hinweisen sei nur langsam und mangelhaft nachgegangen worden. „Der Fall wurde behandelt, als ginge es nur um das Gezänk zwischen einem freien Kollegen und dem Nachwuchsstar des Ressorts.“ Von Moreno wird für den Herbst ein Buch mit dem Titel „Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ erwartet. Die Filmrechte an dem Buch hat sich bereits die Ufa gesichert.

Durch den Relotius-Skandal wurde zudem eine Debatte über Journalistenpreise ausgelöst. Speziell im Ressort Gesellschaft habe es gerade bei jungen Kollegen einen gewissen Druck der Journalistenpreise gegeben. Genau darum gehe es in diesem Ressort, habe es geheißen, geht aus dem Abschlussbericht hervor.

Die Kommission legt zusammen mit ihrem Abschlussbericht einige Veränderungsvorschläge vor. Dazu gehört, dass in Geschichten nicht nur die Fakten stimmen, sondern auch Dramaturgie und Abläufe die Wirklichkeit wiedergeben müssen. „Fakten schlagen die vermeintliche literarische Qualität“. Gefühle oder Gedanken von Protagonisten sollen nicht rekonstruiert werden. Zudem müsse jeder Reporter seine Recherche lückenlos dokumentieren. „Vor allem dann, wenn sie nicht überprüfbar ist.“ Gleich 15 Vorschläge beziehen sich auf die Arbeit der „Spiegel“-Dokumentation. Wie das Gesellschaftsressort besser in die Gesamtredaktion eingebunden werden kann, dazu enthält sich die Kommission indes eines Votums.

Der Abschlussbericht auf "Spiegel Online".

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