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Einheitsgewinner: Andy (Charly Hübner) hat nach der Wende durchgestartet. 30 Jahre später sieht er sich einem Vergewaltigungsvorwurf ausgesetzt.

© ARD Degeto/Manju Sawhney

ARD-Film „Für immer Sommer 90“: Sosein im Dasein

Wahlweise als Serie oder Film: „Für immer Sommer 90“ mit Charly Hübner ist ein Roadmovie in die Vergangenheit.

„Für immer Sommer 90“ geht auf zwei Wegen. Entweder als Serie mit vier Teilen à 22 Minuten oder als 90-minütiger Fernsehfilm. Ich würde zur Serie raten, in diesem Format wirkt es wuchtiger, eindringlicher, sind die einzelnen Figuren prägnanter, treten eigenständiger und konzentrierter hervor. Alle – besonders eine: Andy Brettschneider, gespielt von Charly Hübner.

Sein Erfolgsbanker ist das Zentralgestirn. Gerade noch sitzt er über seinem Steak mit der Goldpanade, da konfrontiert ihn sein Chef Christopher (Stephan Schad) mit einer üblen Nachricht: In einer anonymen Mail wird Andy B. eine Vergewaltigung vorgeworfen. Eine geschäftliche Intrige, eine perfide Erpressung oder ein später Racheakt?

Die Intrige könnte von seiner Kollegin Bea (Lisa Maria Potthoff) kommen, mit der Brettschneider zwar glänzend zusammenarbeitet, die ihm seinen nächsten großen Millionencoup und den nächsten Karriereschritt neiden könnte. In der Welt der Banker agieren die Fische mit den großen, scharfen Zähnen.

[„Für immer Sommer 90“, ab 23. Dezember um 20 Uhr 15 in vier Teilen in der ARD-Mediathek, am 6. Januar um 20 Uhr 15 in der ARD.]

Die Mail ging zugleich auch an Andys Mutter Ingrid (Walfriede Schmitt), was die Vermutung auslöst, dass Andys alte Clique dahintersteckt. Brettschneider startet seine Reise in seine Vergangenheit. Der Einheitsgewinnler fährt mit seinem todschicken Tesla in den Osten, in seine Heimat, zu seinen früheren Freundinnen und Freunden. Vor 30 Jahren hat er sie zuletzt gesehen, Fußball-WM 90, Alkohol, Sex, Blackout. Tags darauf fuhr Andy zum Studium nach Frankreich, ein neues Leben tat sich auf, jetzt sitzt er in der Fettlebe in Frankfurt am Main. Ziel- und machtbewusst, bindungsschwach und windig, Andy will auf der Siegerstraße weiterrasen.

Hübner hat am Impro-Skript mitgeschrieben

Der Vorwurf einer Vergewaltigung ist da tödlich. Hilft nix, Andy B., der Mann mit den schicken Anzügen, den hochgestellten Hemdkrägen, mit seiner Selbstgewissheit im Hier und Jetzt, muss den Urheber/die Urheberin finden. Ein Roadmovie beginnt. Geschrieben haben es Jan Georg Schütte, Lars Jessen und Charly Hübner, Schütte und Jessen haben Regie geführt. Einen Improvisationsfilm, eine Improvisationsserie haben sie geschaffen. Nicht jede Szene ist abgezirkelt, nicht jede Einstellung strotzt vor Perfektion und vielleicht gerade deswegen lässt die Produktion die Erschütterungen spüren, die Andy beim Wiedersehen mit seiner Clique erlebt: Ist er richtig in seinem Leben unterwegs, steht eine Änderung an, muss eine Abfahrt genommen werden?

Ist ja nicht so, dass jeder und jede seinen/ihren Platz im Leben gefunden hat. Katrin (Deborah Kaufmann), von der Andy annahm, dass sie eine große Schauspielerin würde oder wenigstens eine gutsituierte Ärztin, ist in Salzgitter gelandet, als Sprechstundenhilfe bei einem Urologen. Sie reagiert empört, als Andy sie der inkriminierten Mail verdächtigt, sehr empört reagiert sie, als er ihr Geld bietet.

Es kommen weitere, unerfreuliche Begegnungen mit den Menschen aus der Vergangenheit hinzu. Sven (Roman Knizka) ist Versicherungsmakler mit Adelstitel geworden. Von Wengelin sucht sofort die Nähe zu seinem Gott des Erfolgs. Andy B. aber will von ihm nur eine Antwort auf die Frage: Hast Du mich verleumdet, mich, der ich niemals eine Frau vergewaltigt habe?

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Auch Annett (Christina Große), einstmals Klassenbeste, heute mit einem Philosophieprofessor aus dem Westen in Leipzig verheiratet und Journalistin für einen feministischen Blog, bringt Andy nicht weiter. Wieder eine episodische, ergebnislose Begegnung, Worte fliegen hin und her, nicht gerade empathisch, Andy B. fährt weiter zu Marina (Stefanie Stappenbeck). Sie ist in der gemeinsamen Heimat, in Mecklenburg-Vorpommern geblieben, wurde Erzieherin, lebt seit der Trennung von Ronny bei ihrer Mutter. Auch hier kommt nichts Versöhnliches oder Verlässliches heraus. Andy möchte keine Freundschaft wiederaufleben lassen, sondern nur Gewissheit über die Urheberschaft.

Zerstörte Träume nach der Wende

Die bekommt er dann, bei seinem letzten Stop – bei Ronny (Peter Schneider) und dessen kleiner Schwester Berit (Karoline Schuch). Auch bei diesen beiden hat das Leben nach der Wende keine Träume wahrgemacht, dafür ging es zu toll auf und ab. Aber jetzt, mit dem Auftauchen von Andy Brettschneider, zeigt sich die Notwendigkeit zu Einsichten: Was waren die falschen Entscheidungen, was die richtigen, die Schuldfrage richtet sich ans eigene Leben, auch an das von Andy Brettschneider. Der Sommer 90 war nicht immer.

Film und Serie sind nicht über einen schlichten Ossi-Wessi-Konflikt geschlagen, dazu sind die Figuren und die jeweiligen Schicksale zu individuell, deutlich wird nur, welche Herausforderungen, welche Wirkungen und Nachwirkungen, Risiken und Chancen das Ende der DDR für den DDR-Bürger bedeutet hat. Leben wird besichtigt, geglücktes und missglücktes.

Andy Brettschneider hatte die Sechser-Clique verlassen, er war nicht wieder zurückgekehrt. Kein Mannschaftsspieler, ein Solist auf geradem (Gewinnmaximierungs-)Kurs. Charly Hübner umreißt die Figur, lässt sie flirren und klirren, sein Andy zeigt Verantwortung und Gewissen, dann wieder Kalkül und Kälte. Seine Figur ist praller als die Mitspielerinnen und Mitspieler, eine Karoline Schuch, eine Lisa Maria Potthoff oder ein Peter Schneider machen allerdings kostbare Miniaturen aus dem, was einen Menschen ausmachen kann. „Für immer Sommer 90“ ist Schauspiel im großen Karo.

Jan Georg Schütte und Lars Jessen, die beiden Regisseure, lassen spielen. Nähe soll sein, unaufdringliche Nähe, wie sie auch die Kamera von Moritz Schultheiß herstellt. Die Clique wirkt nicht „inszeniert“, sie wirkt lebensnah. Andy, Katrin, Sven, Annett, Marina und Ronny erzählen vom Sosein im Dasein. Und die Erzählung ist klüger als die Erzählerinnen und Erzähler.

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