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Mittendrin. Hans-Ulrich Jörges (rechts) schrieb nicht über Politiker, er sprach auch mit ihnen, so 2007 mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck.

© picture-alliance/ dpa

Autobiographie von Hans-Ulrich Jörges: Schreien und schreiben

Offen und ehrlich: Hans-Ulrich Jörges legt die „Lebensbeichte eines Kolumnisten“ ab.

Als der junge Hans-Ulrich Jörges bei der britischen Nachrichtenagentur Reuters in die Lehre ging, hat er deren ersten Stilregel quasi verinnerlicht. In den ersten Satz einer Meldung darf kein Komma rein. Das hat sich im späteren Publizisten und Kolumnisten verändert, es sind Kommas und Nebensätze dazugekommen, doch der Brutalismus blieb in seinen Texten. Brutalismus klingt brutal, doch schon in dem Architekturstil steckt neben üppig Beton etwas anderes, Besonderes: Offenheit und Ehrlichkeit.

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Beides muss man Hans-Ulrich Jörges attestieren, und weil beides Markenzeichen seiner beinahe 1000 Kolumnen im „Stern“ waren, ist auch seine Autobiographie danach geraten. Der Titel „Der Schrei des Hasen“ klingt merkwürdig, findet jedoch seine sinnstiftende, gar lebensdefinierende Erklärung. Als der sich linksradikalisierende Student zum bewaffneten Terrorismus aufmacht, kauft er ein Gewehr. Es geht zum Schießtraining. Jörges trifft einen Hasen, aber nicht tödlich. Das Tier schreit seinen Schmerz hinaus, Jörges schießt wieder und wieder, bis der Hase nicht mehr schreit.

Hans-Ulrich Jörges lässt ab vom Radikalismus à la RAF, das Gewehr kommt in den Schrank, die Schreibmaschine auf den Tisch des angehenden Journalisten. Da ist Jörges, geboren 1951 in Salzungen, schon in seinem „vierten Leben“, wie er schreibt, fünf werden es insgesamt. Der DDR-Bürger Jörges siedelt mit Familie in die Bundesrepublik über, „vom subjektiv empfundenen Wohlstand der Familie in den überraschend tristen Westen“, der für Jörges zunächst Fulda hieß.

Hans-Ulrich Jörges nimmt den Leser auf seinen 414 Seiten mit auf die Reise seines Lebens, „das die Qualen spiegelt, die Irrtümer und Wandungen der deutschen Geschichte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts“. Darunter macht es ein Jörges nicht und tatsächlich gibt es in den Kapiteln, die nur selten zu detailfreudig geraten sind, hellsichtige Spiegelungen und Widerspiegelungen von Land und Mensch.

Hans-Ulrich Jörges beschreibt seinen Lebens- und Berufsweg auf 414 Seiten

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Nach etlichen Jahren im Tagesjournalismus wird Jörges 2007 Mitglied der Chefredaktion des „Stern“, Chefredakteur für Sonderaufgaben im Verlag Gruner + Jahr, ehe er im „Zwischenruf“ seine offenbar erfüllendste Aufgabe findet: Kolumnist. Bis zu seinem Ausscheiden Mitte 2020 schlägt er wöchentlich zu, Jörges darf für sich behaupten, dass er das politische Berlin wenn nicht zum Beben, so doch zur Erregung bringt. Wie anders, wenn er formuliert, „Merkel hinterlässt einen Versagerstaat. Die Coronakrise hat mir die Augen geöffnet.“

Da sind andere Urteile möglich, keine Frage, doch sind es die Jörgesschen Verdikte, die den Leser zur eigenen Positionsbestimmung herausfordern. Mehr kann ein Autor kaum erreichen, oder? Neben seinem Lebens- und Berufsweg streut Jörges Nebensächlichkeiten und Anekdotisches ein, seine In- und Outliste der Politikerinnen und Politiker wird manchen überraschen, nicht weniger, wen Jörges duzt oder wem er schon als Berater zur Seite gesprungen ist.

Hätte schlimmer kommen können

„Hätte schlimmer können für den Entwurzelten“, ist der Schlusssatz dieser kristallklar geschriebenen „Lebensbeichte eines Kolumnisten“. Allerdings, das hätte für den Leser weitaus schlimmer kommen können.

Dass das finale Foto Hans-Ulrich Jörges in Cäsarenpose zeigt, passt natürlich ins Selbstbild. Joachim Huber

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