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„Darling, just give me one last push“. Schwester Evangelina (Pam Ferris) ist auf dem Weg zu ihrem nächsten Einsatz als Hebamme im Londoner Stadtteil Poplar.

© ZDF

"Call the Midwife": Presswehen mit Pinot Noir

Wozu Schwangerschaftsberater, wenn es die Serie „Call the Midwife“ gibt: Hier wird kein Vorgang rund um die Geburt ausgelassen - und im Kreißsaal wird so charmant geplaudert wie beim Fünf-Uhr-Tee.

TV-Serien schauen ist wie ein Tauchgang. Man verlässt das gewohnte Element, schwebt nur mit einer Sauerstoffflasche, also einer großen Stullenplatte und Pinot Noir, in fremde Welten – und sinkt immer tiefer und tiefer ins Sofa. Serien schauen tut mir überhaupt nicht gut. Es macht mich normalerweise müde, fahl und geistig irgendwie dick. Am Ende bin ich halb Mensch, halb Sofa und zu schwach, „Netflix“ zu bestätigen, dass ich noch da bin. (Kennen Sie diesen Button, den man nach mehreren Stunden wegklicken muss? Dann sind Sie aus meinem Holz geschnitzt.) 

Neugeborene unter dicken Plumeaus

Während der „Sopranos“ lernte ich, den Teller übrig gebliebene Meatball-Pasta supergenervt in die Mikrowelle zu stellen. So wie Carmela es für Tony tut. Während „Mad Men“ beschloss ich, dass der ästhetische Zugewinn einer Zigarette die gesundheitsschädliche Wirkung aufhebt und fing wieder an zu rauchen. So wie Peggy Olsen.

Während „Breaking Bad“ schlich sich ein schreckliches Suffix in meinen Wortschatz. Siehe Jesse Pinkman, yo. Nur ein einziges Mal zog ich bisher einen sinnvollen praktischen Nutzen aus einer Serie. Und das war „Call the Midwife“.

Im zweiten Schwangerschaftstrimester entdeckte ich – for the record: ohne Pinot Noir und Zigaretten – die BBC-Serie bei iTunes und kaufte dann umgehend die erste Staffel inklusive „Christmas Special“. Dafür bin ich sogar aufgestanden, um den dreistelligen Sicherheitscode meiner Kreditkarte in Erfahrung zu bringen!

Jeder denkbare Vorgang rund um den Themenkatalog Geburt

Gebannt verfolgte ich die Abenteuer der jungen Jenny Lee (umwerfend: Jessica Raine), die im Osten Londons der späten 50er Jahre als Hebamme bei einem Konvent anheuert. „Call the Midwife“ stützt sich auf die Erinnerungen der inzwischen verstorbenen Krankenschwester Jennifer Worth und beschreibt jeden denkbaren Vorgang rund um den Themenkatalog Geburt sowie jeden denkbaren Vorgang rund um den Themenkatalog Hebammen-Nonnen in weltlicher Umgebung.

Poplar, damals kein besonders schöner und reicher Teil der britischen Hauptstadt, wirkt durch den Sepia-Filter der Serie wie ein Paradies der Mitmenschlichkeit. Man kennt sich, Kinderwagen mit Neugeborenen unter dicken Plumeaus werden einfach zum Lüften vors Haus gestellt. Die Väter schuften in der Werft, die Mütter am Waschzuber.

Die Hebammen wirken erschöpft, aber glücklich

Auch die Arbeit der Hebammen ist hart, körperlich und seelisch. Sie fordert die Frauen über den Rand der Erschöpfung hinaus, macht aber offenbar glücklich und bedingt das Tragen unfassbarer Fönfrisuren und knallroten Lippenstifts.

Für die Zuschauer ist es besonders beglückend, dass hier kein medizinisches Detail dem Zufall überlassen wird. Die Vintage-Ausstattung der Hebammen ist schwer authentisch, die Möglichkeiten der Schmerzlinderung unter der Geburt mit Lachgas eher begrenzt. Echte Expertinnen berieten die Schauspielerinnen, bis diese Blutdruck messen, Blut abnehmen, ein Hörrohr benutzen und die Bäuche abtasten konnten.

Noch dazu sprechen die Damen den herrlichsten britischen Akzent, sodass die finale Anfeuerung „Darling, why don’t you give me just one last push now“ so ähnlich wie eine Einladung zum Fünf-Uhr-Tee klingt und „Oh dear, we have a case of postpartum depression“ wie ein zu vernachlässigendes Problemchen. Alles wird gut. Meistens.

Kein Wunder, dass „Call the Midwife“ in Großbritannien erfolgreicher anlief als „Downton Abbey“ und vielfach prämiert wurde.

Nichts, was einem peinlich sein müsste

Die Serie wurde mein Fachbuch. Warum „100 Fragen an die Hebamme“ auswendig lernen, wenn man es auch viel, viel unterhaltsamer haben kann? Ich vertraute der Recherchequalität der British Broadcasting Corporation. So sehr, dass ich bei einer Kreißsaal-Besichtigung das Für und Wider von Lachgas diskutierte – fachmännisch, wie ich annahm.

Gerade läuft die dritte Staffel im deutschen Fernsehen. Habe ich natürlich längst gesehen. Nichts, was einem peinlich sein müsste. Nur für eine Sache schäme ich mich aufrichtig: dass ich dachte, ich kriege mit dem neu erworbenen Fachwissen solche Presswehen auch irgendwie alleine hin. Nein! Hebammen werden dringend gebraucht, in Funk und Fernsehen genauso wie im richtigen Leben, in den Kreißsälen ebenso wie in der Wochenbett-Betreuung, yo.

- „Call the Midwife“ läuft derzeit bei iTunes oder bei ZDFneo am Samstagmorgen ab 9 Uhr 55.

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