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Kenneth Branagh als Premierminister Boris Johnson.

© dpa / Phil Fisk/Sky UK/dpa

Kenneth Branagh als Boris Johnson: Seuche und Shakespeare

Die Insel der Unglückseligen fightet nicht, sie struggelt. Eine starke Sky-Serie zeigt die Anfangszeit von Boris Johnson in der Downing Street.

Das eingedeutschte Wort „Struggle“ lässt sich nur halbherzig übersetzen. Im englischen Original ein Begriff fürs innere wie äußere Ringen mit sich und allem, ist er weitaus komplexer als der kämpferische „Fight“. Da verwundert es wenig, dass in der Sky-Serie „This England“ alle ständig struggeln statt fighten. Schließlich erweckt letzteres den Anschein, noch Zügel in Händen zu halten. Und davon kann keine Rede sein, wenn der durchgegangene Hengst, auf dem Land und Leute Richtung Abgrund galoppieren, heißt wie dieser. Boris Johnson.

Angesichts der Kaskade hochgestapelter Katastrophen ist der lachhafteste Politclown nach Donald Trump eigentlich längst Geschichte. Andererseits hat er seiner Nachfolgerin vor vier Wochen ein Chaos für die Ewigkeit hinterlassen, das Stoff für Dutzende Grotesken böte. Showrunner Michael Winterbottom hatte also die freie Wahl und ein paar Monate im Frühjahr 2020 herausgepickt, die fast zu unglaublich sind, um wahr zu sein. Doch der Reihe nach („This England“, 6x60 Minuten, Sky Altantic, Sky Q und Wow, donnerstags in Doppelfolgen).

Im Spätherbst zuvor ächzt das Königreich unter der politischen, sozialen, wirtschaftlichen Dauerkrise. Seitdem der EU-Austritt beschlossen wurde, ist das Parlament blockiert, die Gesellschaft zerrissen, der Staat handlungsunfähig, seine Führung skandalumwittert. Im Grunde bedarf es einer Grundsatzreform aller Bereiche. Der neue Premier aber reduziert seine Regierungsagenda auf drei Worte: Get Brexit Done. Selten zuvor hatte die Regierung kurzsichtiger agiert, selten gefährlicher, aber auch selten erfolgreicher.

Schließlich beschert sie ihm bei der Unterhauswahl am 12. Dezember einen Erdrutschsieg – den Regisseur Winterbottom nach eigenem Drehbuch (mit Kieron Quirke) durch echte Bilder der nächsten Tragödie kontrastiert: Während Boris Johnson vom liberal-populistischen Triumph berauscht „Wohlstand, Wachstum, Hoffnung“ verheißt, schwenkt die Kamera aus der feiernden Downing Street 10 nach China, wo Corona von einem Tiermarkt in Wuhan aus um die Welt zu reisen beginnt. So arbeitet Winterbottom sechsmal sechzig Minuten.

Während die (reale) Queen ihre Weihnachtsansprache hält, versucht der (fiktive) Premier seine vier Kinder zu erreichen. Während Starkregen große Teile Englands flutet, genießt er die Sommerfrische im Süden. Während Covid-19 erste Todesopfer fordert, feiert er das Abspaltungsfinale. Während seine (rein männlichen) Mitarbeiter die Pandemie endlich ernstnehmen, genießt er die Winterfrische im Norden. Und während das Virus auch daheim die Intensivstationen füllt, ist Johnson – tja, wo eigentlich?

So präsent das exekutive Oberhaupt der fünftgrößten Volkswirtschaft privat ist, so abwesend scheint es immer dann zu sein, wenn es Wichtigeres zu tun gibt als Babypartys seiner schwangeren Freundin (Ophelia Lovibond) oder vollbesetzte Rugbystadien, in denen er auch dann jedem die Hand gibt, als Englands Infektionszahlen explodieren.

Die Insel der Unglückseligen fightet nicht, sie struggelt. Shakespeare-Darsteller Kenneth Branagh verkörpert den heiteren Dilettantismus des politisch Hauptverantwortlichen mit Perücke und Fatsuit fotorealistisch, als wäre Boris Johnson das, was Verschwörungstheoretiker ohnehin vermuten: Avatar einer Hollywoodgroteske.

Dummerweise sind die halbfiktionalen Charaktere so plausibel, dass alle persönlichen Erzählstränge im Gesundheitssystem am Abgrund doppelt deprimieren. Neben Branagh brilliert dabei besonders Andrew Buchan als struggelnder Gesundheitminister Hancock, den Simon Paisley Days diabolischer Spin-Doctor Dominic Cummings genial in seine Schranken weist.

Wenn er Konferenzteilnehmer flüsternd à la „es herrscht ein kompletter Mangel an Ehrgeiz, das ganze System kollabiert, niemand ist zuständig, niemand verantwortlich“ rundmacht, biegt sich selbst Alphatieren das Rückgrat.

Ob der wahre Johnson also auch privat von derart fröhlicher Begriffsstutzigkeit ist, mit der Winterbottom spielt? Who knows… Aber das öffentlich zugängliche Material deutet an: Der Star dieser dokudramatischen Realsatire ähnelt seiner fiktionalen aufs Haar.

Und was noch furchteinflößender ist: Es sollte niemand hoffen, schlimmer könne es da nicht werden. Nach Bush kam Trump, nach Berlusconi Melloni und nach Johnson? Regiert die Ultra-Thatcheristin Liz Truss nun direkt aus der Hölle manchesterkapitalistischer Wirklichkeitsverdrängung. Boris dürfte sich kringeln vor Lachen.

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