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In der ersten Zeit nach dem Corona-Ausbruch wurde es noch begrüßt, wenn sich Kinder und Jugendliche mit digitalen Spielen und Social Media ablenkten. Auf die Dauer sollte es dafür aber Grenzen und familiäre Regeln geben.

© Philipp Branstädter/dpa

Games- und Socia- Media-Nutzung während Corona: Experten warnen vor Suchtpotenzial für Jugendliche

Spielen, Chatten, Streamen: Was die erschreckende Zunahme des Medienkonsums von Kindern und Jugendlichen bedeutet.

Das Digitale in Zeiten von Corona: Für viele war es eine willkommene Ablenkung, für andere, vor allem für Kinder und Jugendliche, offenbar eine potenzielle Suchtfalle. So das Ergebnis einer am Mittwoch in Berlin vorgestellten Studie der DAK-Gesundheit.

Gemeinsam mit Suchtexperten der Uniklinik Hamburg Eppendorf (UKE) hat die gesetzliche Krankenkasse erstmals mit repräsentativen Stichproben untersucht, wie sich die Pandemie-Hochphase im April auf den Medienkonsum in den Familien ausgewirkt hat. Die bedenklichsten Befunde: 700 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland nutzen Computerspiele riskant oder pathologisch. Heißt: zu viele Stunden am Tag, zu unkontrolliert. Der Lockdown hat die Zeit, in der 10- bis 17-Jährige Online-Spiele zocken, um 75 Prozent erhöht.

Worauf die Studie auch ein Schlaglicht wirft: In lediglich 50 Prozent der Haushalte existieren Regeln zum Medienkonsum. Die Pandemie hat nach dem Befund der Experten nicht für mehr Grenzen im Umgang mit Smartphones und Co. gesorgt – ganz im Gegenteil. „Hier besteht dringender Handlungsbedarf“, sagt Professor Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen am UKE und gleichzeitig auch Studienleiter.

Die Studie vergleicht den Corona-Lockdown-Zeitraum mit September 2019. Damals hatten rund 2440 Heranwachsende und jeweils ein Elternteil an der Untersuchung teilgenommen. Die Fragen der Corona-Untersuchung im April 2020 beantworteten knapp 1650 Teilnehmer. Riskantes Spielverhalten mit erhöhtem Risiko für Körper und Psyche legten im Herbst 2019 zehn Prozent der Jugendlichen zwischen zehn und 17 Jahren an den Tag. Bei 2,7 Prozent kam es in den vorangegangenen zwölf Monaten zu pathologischem Verhalten und Kontrollverlust.

Mit Glücksspielelementen angereichert

„Viele Spiele sind darauf angelegt, Jugendliche so lange wie möglich im Netz zu halten“, sagt Thomasius. Die Industrie integriere bei Online-Spielen zunehmend Glücksspielelemente. Vor allem Jungs sind dafür anfällig, sie sind doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Das war schon vor Corona so. Danach hat sich das Zocken deutlich intensiviert. Von 79 auf 139 Minuten unter der Woche, also im Schnitt täglich eine Stunde länger. Am Wochenende kamen die Jugendlichen während des Lockdowns sogar auf mehr als drei Stunden am Tag, 193 Minuten, ein Anstieg um 30 Prozent. Ähnlich verhält es sich mit der Nutzung von Sozialen Medien auf Computer, Smartphone und Tablet. Ausgenommen waren Homeschooling-Angebote und Lern-Apps. Im Fokus dagegen Messenger und Video-Dienste sowie digitale Dauerbrenner wie Snapchat, Instagram und Facebook. Auch hier gab es bereits im September 2019 bei 8,2 Prozent der Heranwachsenden eine riskante Nutzung. Rund 170 000 Jungen und Mädchen wiesen sogar krankhafte Merkmale auf.

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Was geschah nach dem Lockdown? Auch hier stieg die Aktivität um 66 Prozent – von 116 Minuten auf 193 täglich. Zu ihren Motiven befragt, gaben rund ein Drittel an, online „der Realität entfliehen“ zu wollen. Auch Langeweile spielt eine große Rolle. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, selbst Mutter von neunjährigen Zwillingen, sagt: „Wir müssen jetzt schauen, dass der Corona-Ausnahmezustand nicht zum Dauerzustand wird.“ Und um das beurteilen zu können, soll es im Frühjahr 2021 eine abschließende Befragung geben.

Eine Online-Anlaufstelle gegen Mediensucht

In einem Pilotprojekt, an dem sich der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) beteiligt, bietet die DAK 12- bis 17-Jährigen ab Oktober eine zusätzliche Vorsorgeuntersuchung an. Das Programm wird zunächst in fünf Bundesländern anlaufen – Nordrhein-Westfalen, Bremen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Was ab August, also schon demnächst, allen offensteht – egal ob DAK-Mitglied oder nicht: die neue Online-Anlaufstelle Mediensucht unter der Adresse www.computersuchthilfe.info.

„Niederschwellig und einfach“ solle die Unterstützung sein, sagt die Drogenbeauftragte. Und Digitalstaatsministerin Dorothee Bär (CSU) pflichtet ihr bei, Online-Sucht habe man schon länger „auf dem Schirm“. Deshalb seien nun 35 000 Informationsflyer zu den Eltern unterwegs, über Schulen und Arztpraxen. Aber auch im Internet. Ausgerechnet dort, wo die Probleme verankert sind. Und das ist wiederum ein Punkt, den die Drogenbeauftragte Ludwig immer wieder klarstellt: Digitalisierung an sich sei kein „Teufelszeug“, sondern eine „Riesenchance“. „Wir müssen Kinder nur wie beim Schwimmen oder beim kleinen Einmaleins richtig an sie heranführen.“

Fatima Abbas

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