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Ermordet von der Waffen-SS: Im Juni 1944 wurde beinahe die gesamte Bevölkerung des westfranzösischen Ortes Oradour umgebracht. In Deutschland wurden die Täter nach dem Krieg – mit nur einer Ausnahme – nicht belangt. Foto: SWR

© SWR/Udo Hans Wolter

SS-Morde von Oradour: Das ungesühnte Massaker

Jenseits der History-Routine: Die ARD-Doku "Der Fall Oradour" über die SS-Morde vor 70 Jahren und die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die Täter.

Ein großer Festsaal in Bayern, weißblau geschmückt, Blasmusik, Biergläser auf den Tischen. Deutsche Gemütlichkeit, garniert mit schneidigen Reden. Ein älterer Herr erklärt, der „gute Name unserer Division ist ohne Makel“. Ein anderer: Oradour und Tulle seien – „und das muss gesagt werden“ – Reaktionen auf vorausgegangene Aktionen der französischen Widerstandsbewegung gewesen. Die alten Kameraden der SS-Division „Das Reich“, seriöse Herren in Schlips und Anzug, traten in den 1970er Jahren mit der Rechtfertigung ihrer Taten ganz unverhohlen auf. Zu befürchten hatte man ohnehin nichts, denn für eines der schlimmsten deutschen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg war in der Bundesrepublik niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Am 10. Juni 1944 hatte die Waffen-SS den westfranzösischen Ort Oradour buchstäblich ausradiert und einen Tag zuvor in Tulle 99 zivile Geiseln erhängt.

Ein Prozess vor einem Militärgericht in Bordeaux führte 1953 zu einer innerfranzösischen Krise, weil vor allem SS-Angehörige aus dem von Deutschland annektierten Elsass Konsequenzen tragen mussten. 44 Deutsche wurden in Bordeaux wegen des Massakers von Oradour in Abwesenheit zum Tode verurteilt, aber in Deutschland selbst kam es zu keinem Verfahren. Hilfreich dabei war, dass Bataillonskommandant Adolf Diekmann in der Normandie gefallen war. So hätten nach dem Krieg sämtliche Beschuldigte ausgesagt, dass die Aktion allein aufgrund eines eigenmächtigen Befehls von Diekmann durchgeführt worden sei, sagt der Historiker Ahlrich Meyer in der ARD-Dokumentation „Der Fall Oradour“.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund bereitet ein neues Verfahren vor

Erst 1983 kam es auch in Deutschland zu einem ersten Oradour-Prozess: in der DDR, gegen Zugführer Heinz Barth. „Das wurde eben gedankenlos, ohne nachzudenken, durchgeführt“, hört man seine leise, brüchige Tonbandstimme über die Massenerschießungen sagen. Barth wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, aber 1997 aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen. Der zweite Prozess könnte nun folgen. 70 Jahre nach dem Massaker, bei dem die SS 642 Menschen tötete und damit bis auf sechs Überlebende die gesamte gerade anwesende Einwohnerschaft, bereitet die Staatsanwaltschaft Dortmund ein Verfahren gegen sechs Täter der unteren SS-Ränge vor. Das sei man den Angehörigen schuldig, sagt Oberstaatsanwalt Andreas Brendel. Allerdings gebe es „extreme Beweisprobleme“.

Der Film von Ute Casper bietet schon aus diesem aktuellen Anlass mehr als das pflichtschuldige Abarbeiten eines historischen Jahrestags. Aber muss das sein: Schon wieder was mit Hitler? Das Unwohlsein über ein angebliches Zuviel an Nazi-Themen im Fernsehen mag verständlich sein, wenn das Gedenken in Routine erstarrt. Wenn in konfektioniertem Zeitgeschichts-TV die altbekannten Propagandabilder recycelt werden. Aber hier hitlert nichts, hier schnarrt keine Führerrede, hier flattern keine Nazi-Fahnen im Wind. Casper erzählt (meist) ohne Pathos von dem unfassbaren Massaker, bei dem auch 350 Frauen und Kinder in der Kirche von Oradour ermordet wurden, von den juristischen und politischen Winkelzügen der Nachkriegszeit bis zu den ersten Schritten der Versöhnung.

Die Aufarbeitung der NS-Zeit ist keinesfalls abgeschlossen

Oradour ist ein Beispiel dafür, dass die historische Aufarbeitung der NS-Zeit keinesfalls abgeschlossen ist. Mit der juristischen hat man sogar gerade erst begonnen – „zu spät nicht, aber spät“, meint Brendel. Den Anstoß dazu gab der Barth-Prozess in der DDR, in dessen Zusammenhang zwei weitere SS-Täter aufgetaucht waren, aber „kurzerhand aus dem Verfahren getilgt“ wurden, wie Henry Leide von der Stasi-Unterlagen-Behörde erklärt. Als Leide später in einem Buch davon berichtete und ein Historiker die Staatsanwaltschaft darüber informierte, kamen die Dortmunder Ermittlungen in Gang. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum das Medium Fernsehen diese Entwicklungen in Dokumentationen nicht immer wieder aufs Neue nachzeichnen sollte. Allein mit großen dramatischen Gemälden à la „Unsere Mütter, unsere Väter“ wird man dem Auftrag des historischen Erinnerns sicher nicht gerecht. Es bedarf auch des sachlichen, genaueren Blicks auf Details und Zusammenhänge.

Dieser Auftrag bleibt, auch wenn bald keine Augenzeugen mehr leben. Die beiden einzigen aus Oradour, Robert Hébras und Marcel Darthout, sind 88 und 89 Jahre alt.

„Der Fall Oradour“; ARD, Montag 23 Uhr 30

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