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Einseitig und falsch. Stuttgarter kritisieren die Berichte der Medien über das Bahn-Projekt, bei dem Heiner Geißler am Donnerstag erneut zu vermitteln versuchte. Foto: dpa

© dpa

Stuttgart 21: Dafür? Dagegen? Dazwischen geht nicht

Die Wut der Gegner des umstrittenen Bahn-Projekts richtet sich auch gegen die Medien in Stuttgart. Warum sie viele Berichte unkritisch, einseitig und falsch finden.

Am Tag, nachdem Heiner Geißler Befürworter und Gegner des Milliardenprojekts „Stuttgart 21“ zum ersten Mal an den Schlichtertisch gebeten hatte, wurde in Stuttgart abermals demonstriert, wie fast jeden Tag, seitdem im August die Bagger am Hauptbahnhof anrückten. Aber diesmal postierten sich die Gegner nicht nur vor dem Bahnhofsgebäude. Nach Ende der Kundgebung am 23. Oktober marschierten nach Polizeiangaben 2000 Demonstranten spontan die zwei Kilometer bis zum Funkhaus des Südwestrundfunks (SWR) an der Neckarstraße. Einige trommelten gegen die Glasfront des verschlossenen Haupteingangs. Es wurden Reden gehalten. Dann löste sich die nicht angemeldete Aktion gegen die Berichterstattung des SWR über Deutschlands bestbeobachtete Baustelle wieder auf.

Im Streit um Stuttgart 21 haben sich neue Fronten aufgetan. Die Wut der Bahnhofsgegner richtet sich nun auch gegen die, die über die Wut berichten. Viele Stuttgarter glauben, einseitig, falsch oder viel zu unkritisch über den geplanten Tiefbahnhof und die Zerstörung des bestehenden informiert zu werden. Die etablierten Medien in der Schwabenmetropole, allen voran der öffentlich-rechtliche SWR und die lokalen Blätter „Stuttgarter Zeitung“ (verkaufte Auflage Quartal 3/2010: 452 295 Exemplare) und „Stuttgarter Nachrichten“ (200 235 Exemplare), stehen unter Generalverdacht, sich politischem Druck „von ganz oben“ zu beugen und lange Zeit keine Debatten über Für und Wider zugelassen zu haben.

Diesen Verdacht nährt nicht zuletzt Josef-Otto Freudenreich mit seinem aktuellen Buch „Die Taschenspieler – verraten und verkauft in Deutschland“. Darin dekretiert der frühere Chefreporter der „Stuttgarter Zeitung“ schwäbischen Strippenziehern aus Wirtschaft und Politik, sie bestimmten über ihre Verflechtungen mit der Landesbank die Blattlinie in „Zeitung“ und „Nachrichten“. Beide werden von der Südwestdeutschen Medienholding verlegt, die sich bei der Landesbank Baden-Württemberg verschuldet hat.

Tatsächlich haben beide Blätter das Jahrhundertprojekt von Beginn an fortschrittsgläubig begleitet und mehr die Chancen als die Risiken von Stuttgart 21 betont. Von Adrian Zielke, dem außenpolitischen Ressortleiter der „Zeitung“, stammt der kurz vor seinem Rückzug in den Ruhestand geschriebene Satz: „Ohne die Zustimmung der ,Stuttgarter Zeitung’ zu diesem Großprojekt würde, so vermute ich einfach mal, Stuttgart 21 nie gebaut werden.“ Insbesondere die „Nachrichten“ stehen im Ruf der Hofberichterstattung; sie erlauben sich aber mit Joe Bauers Kolumne „In der Stadt“ eine Insel des Widerstands. So setzte sich der Eisenbahnromantiker Bauer neulich in den Bummelzug nach Ulm, um die Strecke, die für vier Milliarden Euro erneuert werden soll, „aufzusaugen, mit ihrer verdammenswerten Langsamkeit“.

Doch spätestens seit Medien auch jenseits des Ländles über Stuttgart 21 berichten, wurde in den Redaktionen in Stuttgart-Möhringen bemerkt, was im Kessel sich an Protest organisiert. Man ist jetzt bei der „Zeitung“ bemüht, Pro und Contra exakt abzuwägen, auf ein exklusives Mappus-Papier folgt sogleich eine Replik aus dem Lager der Widerständler. Leser wurden zur Diskussion in die Redaktion eingeladen. Morgens wird doppelt so lang konferiert, beim Redigieren jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Image und Auflage nützt es wenig. Sowohl Gegner als auch Befürworter des Projekts haben ihre Abos in dramatischem Ausmaß gekündigt. Zwar verbesserte sich der Einzelverkauf bei der „Zeitung“, doch das Saldo ist laut Vize-Chef Michael Maurer „nach wie vor negativ“. Ähnliches gilt für die „Nachrichten“. Noch immer vermissen Kritiker klassischen Enthüllungsjournalismus. So war die Geschichte über die Verflechtungen des Versandhauskonzerns Otto mit Stuttgarter Spitzenpolitikern zuerst in nationalen Medien wie dem „Stern“ zu lesen.

Das Hamburger Magazin genießt in der Region mittlerweile hohes Ansehen, die Verkaufszahlen sind gestiegen. Aber auch neue Medien erobern den Markt. So wird am Hauptbahnhof bereits die zweite Ausgabe von „Einundzwanzig“ kostenlos verteilt. Diese „Nachrichten für Stuttgart, die Region und Baden-Württemberg“ werden unter anderem von einem Autor der „Stuttgarter Nachrichten“ verfasst und verstehen sich als unabhängig, wobei die Nähe zu den Stuttgart-21-Gegnern deutlich lesbarer ist, zum Beispiel im Interview mit dem Schauspieler Walter Sittler („Politiker sind nicht die Herren, sondern die Diener ihrer Wähler“). Der prominente Protestler, der gerade vom CDU-Politiker Thomas Strobl in die Nähe eines Nazi-Propagandisten gerückt wurde, ist gefragter Talkshow-Gast, ob bei „Markus Lanz“, „Anne Will“ – oder bei fluegel.tv. Der Stuttgarter Internetsender gründete sich im August, als die Abrissarbeiten am Nordflügel des Hauptbahnhofs begannen. Eine Webcam dokumentierte den Verlauf. Inzwischen hat sich fluegel.tv über den reinen Dokumentationsanspruch hinaus entwickelt. Seit September diskutieren Befürworter und Gegner in der Talkrunde „Auf den Sack“. Die dritte Ausgabe von Heiner Geißlers Schlichtungsfernsehen am gestrigen Donnerstag lief, neben Phoenix und SWR, auch bei fluegel.tv.

Die Federführung bei der Rathausshow, die noch immer für Spitzenquoten sorgt, liegt beim öffentlich-rechtlichen Ereigniskanal Phoenix. Ein Übertragungsangebot des SWR-Intendanten Peter Boudgoust hatte der Schlichter abgelehnt, weshalb der SWR Phoenix-Bilder übernimmt. Zweifel an der Unabhängigkeit der Anstalt vor Ort könnten bei Geißlers Entscheidung eine Rolle gespielt haben. Auch einige SWR-Rundfunkräte monieren, dass der Sender in Fernsehen, Radio und Web zu spät in die Berichterstattung über das Wutprojekt 21 eingestiegen sei, überhaupt zu unkritisch agiere. „Bei der Bildberichterstattung und der Moderation der Sendungen über Stuttgart 21“, wurde in der September-Sitzung protokolliert, „bestünden manchmal schon Zweifel, ob die Vorgänge objektiv beleuchtet würden.“ Und: „In dieser Hinsicht sollte innerhalb des Senders für mehr Flexibilität gesorgt werden.“ Intendant Boudgoust ließ daraufhin öffentlich mitteilen, die Berichterstattung seiner Rundfunkanstalt zu Stuttgart 21 leiste „einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung“. Als öffentlich-rechtlicher Sender sei man dazu da, „beide Seiten zu Wort kommen zu lassen“.

Das ist in der am Mittwoch zur Primetime ausgestrahlten Dokumentation „betrifft: Stuttgart in Aufruhr“ nur bedingt gelungen. SWR-Autor Stefan Maier begleitete Befürworter und Gegner des Projekts, unter anderem zur Villa Reitzenstein, Amtssitz des Ministerpräsidenten. Die Kamera blieb schön lange drauf, als sich ein sichtlich gereizter CDU-Regierungschef Stefan Mappus mit einer „Krawallmacherin“ (Mappus) verbal fetzte und die Flucht ergriff. Die Argumente der Pro-Stuttgart-21-Seite blieben blass.

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