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Verhütungsunterhosen. Christian Balaud (l.) und Aurélien Le Gal von der Firma Ardecom haben gut zu tun.

© arte

Arte-Doku über die Pillle: Unvollendete Befreiung

Die sexuelle Identität eines Jungen ist wesentlich wertvoller als die eines Mädchens? Eine kritische Bestandsaufnahme zur Geschichte der Empfängnisverhütung.

Boulevardjournalismus kann im Rückblick betrachtet skurril und komisch sein: „Ehetragödie“, empört sich da eine Schlagzeile in dicken Lettern: „300 Ehefrauen verlieren durch Pille Interesse am Mann“. Die Einführung der Antibabypille 1961 löste nicht nur in der Männerwelt dieses Boulevardblatts Ängste und heftige Proteste aus.

Aber schon Anfang der 1970er Jahre sei die Pille das meistgenutzte Verhütungsmittel gewesen, heißt es im Dokumentarfilm „60 Jahre Pille“. Heute nehmen sechs bis sieben Millionen Frauen allein in Deutschland täglich die Pille, sagt der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske.

Autorin Kirsten Esch würdigt die Bedeutung der Pille, die „den Weg für eine befreite weibliche Sexualität“ frei gemacht habe, und lässt drei junge Frauen beim Picknick mit Geburtstagstorte persönliche Erfahrungen austauschen ( „60 Jahre Pille – Wo bleibt die Pille für den Mann?“ Arte, Dienstag, 20 Uhr 15).

Später kommen Mütter und Freunde hinzu. Zweifellos eine inszenierte Begegnung, doch in dieser Urlaubsatmosphäre am See-Ufer hat man tatsächlich das Gefühl, dass die Protagonisten trotz anwesender Kamera einigermaßen offen miteinander reden. Esch erinnert außerdem in ihrer kritischen Bestandsaufnahme der vergangenen Jahrzehnte an den Skandal um die Bayer-Pille mit dem Wirkstoff Drospirenon, der Frauen wegen des erhöhten Thrombose-Risikos Krankheit und Tod brachte.

Ausführlich kommt auch Buch-Autorin Sabine Kray zu Wort, die bitter resümiert: Die sexuelle Identität eines Jungen sei ganz offensichtlich wesentlich wertvoller als die eines Mädchens.

Überhaupt geht es Kirsten Esch mindestens ebenso um den Mann und seine Rolle bei Verhütung und Partnerschaft. „Wo bleibt die Pille für den Mann?“, lautet der zweite Teil des Filmtitels. Esch stellt die entwickelten Methoden vor und erkundigt sich nach dem Stand der Forschung, den der US-Mediziner John Amory prägnant formuliert: „Wir sind seit 40 Jahren nur fünf Jahre entfernt von der Pille für den Mann.“ Woran liegt's?

Wie eine Werbung für den „slip contraceptif“

Es werde von kapitalistischer Seite offenbar kein Markt gesehen, sagt Glaeske. Die WHO stellte 2012 eine große Studie ein, weil zehn Prozent der Männer nach der Verabreichung eines Testosteron-Präparats über Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Gewichtsverlust klagten.

Die Männer hätten bei Nebenwirkungen, die Frauen seit 60 Jahren ertragen, im ersten Anlauf schlappgemacht, kommentiert die Autorin. Auch beteiligte Wissenschaftler wundern sich darüber, dass man nicht weitere Versuche mit niedrigerer Testosteron-Dosis unternommen hat.

Einen breiten Raum widmet Esch der Methode der thermischen Empfängnisverhütung, bei dem sich die Spermien durch Erwärmung der Hoden zurückbilden. Allerdings wirkt der Film streckenweise wie eine Werbung für den „slip contraceptif“ aus Frankreich.

Dabei werden die Hoden durch einen in die Unterhose eingelassenen Ring in den Bauchraum gedrückt. Wie gut ist diese Methode erforscht? Die mehrfache, ziemlich unkritische Darstellung irritiert – umso mehr, als die Existenz von Kondomen nur angedeutet wird. Welche Rolle diese weit verbreitete Verhütungsmethode in den Paarbeziehungen spielt, untersucht Kirsten Esch seltsamerweise nicht.

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