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Aufmarsch in Budapest

© arte

Arte-Doku: Opferrollen in Ungarn

Wie Orbán Ungarns Trauma zu nutzen weiß: Eine Arte-Dokumentation über den Trianon-Vertrag von 1920 und die schwelenden Konflikte in der Region

Im Grand Trianon, einem Lustschloss im Park von Versailles, wurde am 4. Juni 1920 ein Friedensvertrag unterzeichnet, der bis heute in Ungarn als „Sinnbild für Ungerechtigkeit und Schmerz“ gilt, wie Filmautorin Sugárka Sielaff kommentiert. Zwei Drittel des Territoriums des Königreichs Ungarn, das Teil der Habsburger Doppelmonarchie war, fielen nach dem Ersten Weltkrieg an die Nachbarstaaten.

„Jeder dritte Ungar wohnte plötzlich außerhalb der Landesgrenzen“, heißt es in Sielaffs Dokumentation „Ungarns Trauma – Europas Problem?“. Familien wurden auseinander gerissen, Hunderttausende flohen. 8000 bis 10.000 Menschen seien umgebracht, misshandelt oder vergewaltigt worden, erklärt der ungarische Historiker Balázs Ablonczy. Er sei auch bei oppositionellen Medien ein gefragter Mann, fügt die Autorin vorsichtshalber hinzu ("Ungarns Trauma – Europas Problem?“, Arte, 22. Juni, 23 Uhr 10).

Sielaff schildert das „Trauma“ am Beispiel eines jungen Mannes, dessen Urgroßvater in einem sibirischen Straflager ums Leben kam und der sich nun mit seiner Familiengeschichte an einem Videowettbewerb der Regierung beteiligen will. So würdigt Sielaff den realen „Schmerz“ ungarischer Familien – und erzählt nebenbei, wie die regierende Fidesz von Viktor Orbán versucht, das Thema auch in der jungen Generation zu verankern.

Im Umgang mit Minderheiten sei Ungarn selbst „nicht unschuldig“ gewesen, ergänzt die französische Politologin Louise Neumayer. Auch bleiben im Film das spätere Bündnis des geschrumpften Königreichs mit Hitler-Deutschland und die Beteiligung am Holocaust nicht unerwähnt. Doch Sielaff hält sich nicht allzu lange mit der Vergangenheit auf, sondern schlägt vor allem den Bogen in die Gegenwart, in der die Erinnerung an den Vertrag von Trianon natürlich ein Politikum ist. Regierungschef Orbán ließ gerade im Zentrum Budapests ein 100 Meter langes Denkmal errichten, das die Rolle der eigene Nation als Opfer der westlichen Siegermächte überaus sichtbar in den Mittelpunkt rückt.

Orbán weiß das kollektive Trauma, das während der kommunistischen Herrschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ein Tabu war, für seine Politik zu nutzen. Schon 2010 hatte er den 1,8 Millionen Ungarn, die gegenwärtig im Ausland leben, die Staatsbürgerschaft angeboten – was sich für Fidesz an der Wahlurne auszahlen sollte.

Konflikte mit Nachbarländern wie Rumänien und die Ukraine

Ungarn-Kennerin Sielaff bietet einen kritischen und differenzierten Blick auf das Land und die schwelenden Konflikte mit Nachbarländern wie Rumänien und die Ukraine. So drehte sie in Transkarpatien in der West-Ukraine, wo Rechtsextreme offen gegen die ungarische Minderheit demonstrieren.

Die fühlt sich offenbar nicht zu Unrecht bedroht. Ein neues Bildungsgesetz hatte zur Folge, dass an weiterführenden Schulen nicht mehr in ungarischer Sprache unterrichtet werden darf. Im Februar 2018 gab es einen Brandbomben-Anschlag, der die Zentrale der Konservativen Partei der Ungarn in Ushgorod zerstörte.

So hat die Orbán-Regierung ausreichend Gelegenheit, sich als Helfer diskriminierter Ungarn im Ausland zu profilieren. Ihr Druckmittel ist die Möglichkeit, durch ihr Veto im Nato-Rat engere Kontakte des westlichen Militärbündnisses zur Ukraine zu unterbinden. Das wiederum ist im Interesse Russlands, dessen autoritärem Regime Putin-Freund Orbán ohnehin näher steht als dem Modell der liberalen Demokratien in der Europäischen Union (EU), dessen Mitglied Ungarn trotzdem ist.

Ärger im eigenen Land kann es allerdings geben, wenn sich plötzlich Hunderte in Rumänien lebende Auslandsungarn in grenznahen Orten anmelden, um bei Bürgermeisterwahlen gegen Geldzahlungen oder das Versprechen eines Arbeitsplatzes den Fidesz-Kandidaten zu wählen. Sielaff scheut sich in diesem Zusammenhang auch nicht, einen örtlichen Abgeordneten der rechtsextremen Jobbik-Partei als Kronzeugen zu interviewen.

Vor allem kann sie sich aber auf die Recherche einer Reporterin von RTL Ungarn stützen, die bizarre Szenen in und vor den Wahllokalen filmte.

Mit einer Mischung aus Wehmut und Hoffnung erinnert Sielaff am Ende an die Revolution, die 1989 das Ceausescu-Regime in Rumänien davon fegte. Fragen der nationalen Identität seien damals irrelevant gewesen, erinnert sich eine ungarische Filmkünstlerin aus Cluj-Napoca, einer ehemals zu Ungarn zählenden Stadt in Siebenbürgen. „Vielleicht war es eine Illusion, aber viele Menschen haben das authentisch erlebt“, sagt sie. Mit Gleichgesinnten hat sie das Transit Haus in einer ehemaligen Synagoge gegründet, in dem heute bei Veranstaltungen wieder verschiedene Kulturen und Nationalitäten zusammenkommen.

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