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Das Lied scheint eins geworden mit der Fankultur. Schauspieler und Fußballfan Joachim Krol (l.) trifft unter anderem Musiker Campino in Liverpool.

© WDR/Florianfilm GmbH/Andy Lehman

„You’ll Never Walk Alone“: 158 Sekunden Magie

In einer WDR-Doku sucht Joachim Król nach den Wurzeln des bekanntesten aller Fußballsongs. Eine Wohltat mit Herz vor der EM.

Was die Fans dem Fußball geben, zeigt nicht erst, aber besonders ihr Fehlen im Stadion. Fürwahr beklemmend allerdings wird es erst, wenn man sich ein Youtube-Video vom April 2016 ansieht, besser: anhört. Beim Auswärtsspiel von Borussia Dortmund in Liverpool nämlich singen nicht einige, sondern alle an der legendären Anfield Road das vielleicht schönste Fußballlied aller Zeiten: „You’ll Never Walk Alone“.

Wer da keine Gänsehaut kriegt, ist entweder herzlos oder taub und braucht sich die folgende Sendung gar nicht erst anzusehen, besser: anzuhören. Sie heißt wie das Lied und ist, mit den Worten des Liverpooler Stadionsprechers, „zwei Minuten achtunddreißig Magie“, gestreckt auf eine Dreiviertelstunde Dokumentation. Untertitel: „Geschichte eines Songs“. Einer Hymne, die der Filmemacher André Schäfer bis an ihre Wurzeln verfolgt und damit dorthin, wo sie selbst viele Fans nicht vermuten („You’ll Never Walk Alone“, WDR-Fernsehen, Mittwoch, 23 Uhr).

Als Warm-up zur weitestgehend stadionleeren EM ab Freitag schickt er Joachim Król weder nach Dortmund noch Liverpool oder an einen der kleinen Fußballplätze, wo das Lied zum Ritual zählt wie Bratwurst und Schmähgesänge. In Schäfers Auftrag fährt der beliebte Schauspieler mit BVB-Schal zunächst mal nach Ungarn.

Komische Geschichte, knarzt Króls zerkratzter Ruhrpott-Slang: „Da schreibt ein jüdischer Autor in Budapest ein Drama, das niemand sehen will, aber über Wien weltberühmt wird. Und weil er vor den Nazis fliehen muss und in New York Geld braucht, wird es zu einem Musical am Broadway, und ein Song daraus wird durch verrückte Zufälle die Welthymne des Fußballs.“

Gemeint ist ein Bühnenstück namens „Liliom“, das der ungarische Dramatiker Ferenc Molnár 1909 schrieb, im Gründungsjahr des BVB, was ja nun kein Zufall sein kann. Fußball ist stets auch ein Stück Alltagsmythologie. Und dieser ergreifende Film setzt ihr ein angemessen pathetisches Denkmal.

„Walk on through the wind, walk on through the rain“

Von jenem Café der ungarischen Hauptstadt aus also, wo Molnár sein Drama schrieb, dringt es 1945 zum New Yorker Komponisten Richard Rodgers und seinem Texter Oscar Hammerstein II vor, deren musikalische Adaption auch jenes Stück erhält, in dem jemand durch den Sturm geht und doch den Kopf oben hält: „Walk on through the wind, walk on through the rain“. And you’ll never walk alone.

Fortan ging ein melodramatisches Lied vom Durchhalten in schwerer Zeit mit freundlicher Unterstützung von Superstars wie Frank Sinatra so lange um die Welt, bis es 1962 bei der Liverpooler Popgruppe Gerry & the Pacemakers und von dort im Stadion des FC Liverpool landete, dessen Sprecher vorm Anpfiff die englischen Charts auflegte.

Geboren war ein Mythos, dem André Schäfer und Joachim Król mit einer Leidenschaft nachspüren, die wohl nur echte Fans kennen.

Und weil sie genau das sind, endet ihre Fahrt zu den Ursprüngen dieser Legende auch nicht bei Dortmunds Partie in Liverpool, wo sich zwei durchkapitalisierte Arbeitervereine zur nostalgischen Selbstbeweihräucherung trafen. Es geht erst richtig los. Zumindest im Original. Denn der WDR halbiert die Originalversion ohne erkennbaren Grund und beweist damit bestenfalls Geringschätzung, tendenziell aber Verachtung für den Fußball in seiner urwüchsigen, ungeplanten, räudigen Form.

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Trotzdem bleibt auch in der Kurzfassung spürbar, was der Fußball sein könnte, wenn er mehr sein dürfte als ein Milliardengeschäft distanzierter Investoren aus Katar. Von den Arenen der Champions League reist André Schäfer über verrauchte Vereinskneipen vermooster Bolzplätze zurück nach Liverpool, wo der unvermeidliche Jürgen Klopp und der unvermeidlichere Campino die Katastrophe vom Sheffielder Hillsborough-Stadion schildern und was sie mit „You’ll Never Walk Alone“ zu tun habe.

Spätestens da zeigt sich, wie viel ein simples Lied über die wachsende Selbstentfremdung des Fußballs aussagen kann. Um wie viel fesselnder eine Fußballdoku von Herzen sein kann, verglichen mit der sterilen Europameisterschaft, die am Freitag startet. Ein besserer Sendeplatz in voller Länge – das wäre ein Zeichen von Respekt gewesen. Falls keine lizenzrechtlichen Gründe vorliegen, scheint er dem WDR zu fehlen.

Jan Freitag

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