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Das „Chronische Fatigue Syndrom“ trifft vor allem Frauen.

© dpa/Oliver Killig

Kaum erforschte Krankheit ME/CFS: Rund 300.000 Menschen leiden in Deutschland am „Chronischen Fatigue Syndrom“

Die Medizinerin Carmen Scheibenbogen vom Berliner Charité Fatigue Centrum spricht im Interview über die Krankheit und fehlende Forschungsmittel.

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen leitet in Berlin das Charité Fatigue Centrum, an dem unter anderem die Erkrankung ME/CFS erforscht wird. Das „Chronische Fatigue Syndrom“ (CFS) ist noch wenig erforscht. Im Interview berichtet Prof. Dr. Scheibenbogen über die Problematik einer rätselhaften Krankheit, an der in Deutschland bis zu 300.000 Menschen leiden, wobei die Dunkelziffer noch weitaus höher sein dürfte.

 Frau Prof. Dr. Scheibenbogen, vielen ist ME/CFS bisher kein Begriff. Woran liegt es, dass die Krankheit sogar unter Ärzten nahezu unbekannt ist?
Obwohl CFS relativ häufig ist, sind viele Ärzte mit dem Krankheitsbild nicht vertraut und die Rate der Dunkelziffern und Fehldiagnosen ist vermutlich hoch. Möglicherweise liegt es daran, dass die Erkrankung lange als eine psychische Erkrankung eingeordnet und CFS oft nur als eine chronische Erschöpfung aber nicht als Erkrankung angesehen wurde.

Genau davon berichten viele Patienten: Dass ihr Leiden von Ärzten als psychisch abgetan wird und ihre Symptome nur eine „Kopfsache“ seien. Wie oft kommt es in Ihrem Zentrum vor, dass die Patienten, die zu Ihnen kommen, bereits eine Ärzte-Odyssee hinter sich haben? 
Sehr oft!

Was genau versteht man unter ME/CFS?
CFS ist eine eigenständige komplexe chronische Erkrankung. Meist kommt es nach einer Infektion zu einer schweren krankhaften Erschöpfung, die Fatigue genannt wird und stets mit Schmerzen, schweren Konzentrationsstörungen und vielen weiteren Beschwerden einhergeht. Viele Patienten leiden unter Kreislaufstörungen, Reizdarm, Atembeschwerden und Temperaturempfindlichkeit. Charakteristisch für die Erkrankung ist die oft erst Stunden später oder am Folgetag einer Anstrengung auftretende Verschlechterung, die sogenannte postexertionelle Fatigue oder Malaise, die tage- oder manchmal sogar wochenlang anhalten kann. Diese kann oft schon durch kleine Anstrengungen ausgelöst werden. Aufgrund der neurokognitiven Symptome wird im Englischen meist der Begriff myalgische Enzephalomyelitis (ME) verwendet, inzwischen findet sich oft auch die Bezeichnung CFS/ME.

Bereits im Jahr 1969 wurde ME/CFS von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Krankheit eingestuft. Trotzdem wird bis heute in die Forschung viel zu wenig Geld investiert.
Da CFS eben oft nur als chronische Erschöpfung abgetan wird, wurde die Erkrankung von vielen nicht ernst genommen. Inzwischen beginnt sich das zu wandeln: in den USA, Australien und Kanada wurden jetzt staatliche Förderprogramme initiiert.

Die Charité in Berlin ist in Deutschland die bisher einzige Anlaufstelle für ME/CFS-Patienten?
An der Charité haben wir ein Fatiguezentrum mit dem Ziel der Aufklärung und Fortbildung gegründet und um Patienten und Ärzten Hilfestellung bei der Diagnostik und Therapie zu geben.  Es gibt eine CFS-Sprechstunde für Berliner Patienten. In München ist ein Fatiguezentrum für Kinder im Aufbau.

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen leitet in Berlin das Charité Fatigue Centrum.
Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen leitet in Berlin das Charité Fatigue Centrum.

© privat

Wie ist der derzeitige Forschungsstand?
Die genaue Ursache der Erkrankung ist bislang nicht geklärt. CFS wird von den meisten Ärzten und Wissenschaftlern als eine Multisystemerkrankung betrachtet, mit einer Störung des Immunsystems, des Nervensystems und des zellulären Energiestoffwechsels. Bei den meisten Patienten beginnt die Erkrankung mit einer Infektion und bei diesen Patienten spricht inzwischen vieles dafür, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt.

Vor allem Frauen sind von der Krankheit betroffen. Woran liegt das?
Die meisten Autoimmunerkrankungen treten bei Frauen etwa doppelt so häufig auf wie bei Männern. Das liegt daran, dass Frauen ein aktiveres Immunsystem haben.

Wie wird ME/CFS therapiert?
Die Behandlung von CFS ist bislang symptomorientiert und zielt darauf ab, Infekte und andere Ursachen für eine Immunaktivierung zu behandeln, Mangelzustände zu ersetzen und Symptome der Erkrankung zu behandeln. Ganz wichtig ist auch, zu viel Anstrengung zu vermeiden, die zu einer Verschlechterung der Beschwerden führt. Das betrifft sowohl körperliche Aktivität als auch emotionale Belastung. Auch Techniken zur Entspannung wie autogenes Training oder Atemübungen sind oft hilfreich. Sport ist nicht zu empfehlen, da er zu einer Zunahme der Beschwerden führt.

Gibt es Heilungschancen oder können lediglich die Symptome behandelt werden?
Durch eine symptomorientierte Behandlung kann es langfristig zur Besserung kommen und manche Patienten genesen vollständig. CFS ist jedoch oft eine chronische Erkrankung, da bislang keine zugelassenen Medikamente zur gezielten Therapie verfügbar sind. Erste klinische Studien zeigen die Wirksamkeit immunmodulierender Therapieansätze bei einem Teil der Erkrankten, diese stehen jedoch noch nicht zur Behandlung zur Verfügung.

Wie kann das Problem, dass die Diagnose für ME/CFS oft zu spät gestellt wird, angegangen werden?
Indem alle Akteure des Gesundheitswesens das Problem anerkennen, Richtlinien durch eine Expertenkommission erarbeitet und Versorgungsstrukturen in der Kranken- und Rentenversicherung aufgebaut werden. Zudem müssen, wie in den USA, Forschungsgelder für öffentliche Einrichtungen bereitgestellt und die pharmazeutische Industrie eingebunden werden.

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