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Erst ernten, dann essen. Fabio Santuccio auf seinem Bauernhof in Südostsizilien.

© Marius Buhl

Erlebnistourismus auf Sizilien: Ist das noch authentisch?

Auf seinem Hof bewirtet der Sizilianer Fabio Santuccio Gäste aus aller Welt – vermittelt von Airbnb. Lässt sich Authentizität online buchen?

Im Südosten Siziliens, der Sommer in voller Blüte. Zwischen Olivenhainen und Maulbeerbäumen steht ein Bauernhaus. Bougainvillea wächst empor, eine Katze springt übers Dach davon. An einer hölzernen Tafel auf dem Platz davor, der Asphalt noch heiß vom Tag, sitzen neun Leute. Sie kommen aus Hongkong, Texas, Deutschland, sie reden wild durcheinander, Sprachfetzen vermischen sich mit dem Klirren der Gläser.

Fabio Santuccio, 36, Gastgeber und Bauer des Hofs, schenkt Wein nach. Er hat ihn selbst gekeltert, ein Nero d’Avola. Während alle trinken, hört man nur den Hund schnaufen. Es riecht noch nach den Spaghetti al limone, die Annarella, Fabios Frau, eben aufgetischt hat, vielleicht auch nach Mandel, Pfirsich, dem nahen Meer. Am Himmel leuchten die ersten Sterne.

„Wundervoller Moment“, sagt die Frau aus Texas.

„Den verdanken wir Airbnb“, sagt Fabio Santuccio.

Das Start-up aus San Francisco, gegründet vor elf Jahren, kannte man anfangs vor allem als Plattform, mithilfe derer Menschen ihre Wohnungen zum Fremdenzimmer machen – bevor aus dem Start-up ein milliardenschwerer Player der Tourismusbranche wurde. Vor anderthalb Jahren dann verkündete CEO Brian Chesky „die größte Neuerung in der Geschichte der Firma“. Man könne mit Airbnb zukünftig nicht mehr bloß Räume vermieten: Wer gerne kocht, kann es anderen beibringen, wer ein Boot hat, mit Leuten aufs Meer rausfahren. „Werden Sie Mikro-Unternehmer!“, rief Chesky den Leuten zu. Die neue Funktion nannte er: Experiences.

Airbnb hat die Idee nicht exklusiv

Heute kann man zwischen 40 000 solcher Erlebnisse auf der ganzen Welt wählen. Kurse mit einer Analog-Fotografin in L.A. zum Beispiel, Pastateig kneten mit einer Nonna in Apulien, Fado hören mit einem Musiker in der Alfama oder Kreuzbergs versteckte Streetfoodstände kennenlernen. Anbieten kann jeder, Airbnb entscheidet, wer es auf die Plattform schafft.

Dabei hat Airbnb die Idee natürlich nicht exklusiv. Auf Plattformen wie „Get your Guide“ oder „Your Local Guide“ können Reisende längst Einheimische anheuern, die ihnen die Gegend zeigen. Aber Ferienwohnungen und Couchsurfing gab es ebenso, bevor Airbnb den Ring betrat. Dass das Unternehmen die Idee der Experiences übernommen hat, bedeutet eher, dass es nun einer größeren Zielgruppe leichter zugänglich wird.

Die Experiences, so heißt es, definierten Reisen neu. Hält das Versprechen?

Fabio Santuccio, der Sizilianer, sitzt lange nach dem Abendessen draußen an der Holztafel. Die Gäste sind inzwischen gegangen, Mitternacht ist schon vorüber. Er trägt ein hellblaues Hemd, kurzes schwarzes Haar, Fünftagebart. Ein Mann, der Werbung machen könnte für Sonnenbrillen. Ein Bauer? Santuccio nimmt einen Schluck vom Nero d’Avola. Dann erzählt er seine Geschichte.

Fast alle verließen die Insel, er wollte das nicht

Er komme aus der Nähe von Noto, sagt er, kleines Städtchen, ganz in der Nähe. Noto sei berühmt für seine barocke Architektur und das Café Sicilia, die angeblich beste Eisdiele der Welt, gepriesen unter anderem in der Netflix-Serie „Chef's Table“. Zum Studium sei er nach Catania gependelt, Philosophie und Geschichte. Wann immer er konnte, verbrachte Santuccio Zeit auf dem alten Landstück seines Großvaters. Einst wuchsen hier Oliven, Tomaten und wilde Orangen, jetzt aber lag alles brach, wucherte, der Opa war seit zwölf Jahren tot. „Ein Dschungel“, sagt Fabio.

Es war gegen Ende seines Studiums, dass ihm etwas auffiel. Immer öfter hörte Santuccio seine Freunde schimpfen über die Bedingungen auf Sizilien, die Jugendarbeitslosigkeit, fehlende Jobs, mangelnde Perspektive. Fast alle verließen die Insel früher oder später, begannen in Rom zu arbeiten oder in Deutschland.

Santuccio wollte das nicht. Und er sah eine Chance. Wann immer er Zeit auf dem alten Landstück verbrachte, sprachen die alten Nachbarn ihn an. „So ein schöner Fleck Erde war das damals“, sagten die. „Willst du es nicht wieder herrichten, Fabio?“

2004 begann er. Mit der Sense bearbeitete er Hecken und Büsche, mähte Sträucher nieder, kämmte den Morast, pflanzte junge Olivenbäume und Zitronen. Nach drei Jahren erntete er erste Mandeln, Oliven, Zitronen – und verkaufte sie lokal. Im Bauernhaus, es ist knapp 50 Jahre alt, richtete er ein Gästezimmer ein, erste Touristen kamen, aber davon konnte er nicht leben. Sechs Jahre dauerte es, bis er sein Stück Land wieder vorzeigbar gemacht hatte.

In diesen Jahren entwickelte er einen Gedanken: Was, dachte er, wenn wir all die Zeit nur das gesehen hatten, was falsch läuft auf Sizilien? Die Jugendarbeitslosigkeit, die fehlenden Perspektiven? Und dabei übersahen, was für ein Potenzial in der Insel steckt?

„Es fühlt sich nicht nach Arbeit an“

2017 hörte er von den Airbnb-Experiences. Die liefen damals in einer Testphase, in Italien nur in Florenz und Rom. Santuccio überlegte sich einen Trick. Er gab an, sich in der Hauptstadt zu befinden, aber als Treffpunkt für sein Erlebnis nannte er Noto, Sizilien. Airbnb bemerkte den Schwindel, sie entfernten sein Angebot. Schrieben ihm aber auch eine Mail. Er müsse sich nur noch eine Weile gedulden. Im März 2018 dann öffnete Airbnb die Experiences für die ganze Welt.

Santuccios Erlebnis funktioniert so: Für ein, zwei Stunden führt er seine Gäste über die Farm. Erklärt seine neuesten Züchtungen (gerade kreuzt er einen Pfirsich mit einem Olivenbaum), die Besonderheiten des Anbaus in Sizilien (Wasser ist im Sommer nur in 200 Metern Tiefe vorhanden), dann pflücken die Gäste Orangen, Maulbeeren, Tomaten, Auberginen, Mandeln, je nach Saison, sie bringen alles zu Annarella in die Bauernhofsküche, die kocht daraus ein Sechs-Gänge-Menü.

Seit er sein Erlebnis zum ersten Mal angeboten hat, kamen fast 1000 Leute. Er hat 252 Bewertungen gesammelt, seine Note ist eine 4,96 (von 5), nur wenige auf Sizilien sind höher bewertet. Inzwischen hat er mittags und abends Gäste, vier Mal die Woche in der Hauptsaison. „Es fühlt sich nicht nach Arbeit an“, sagt Santuccio. „Eher als ob wir für Freunde kochen.“ Ist der Tourist, der auf Santuccios Hof kommt, Pflaumen pflückt, etwas über Olivenöl lernt, Wein trinkt, der bessere als der, der sich vor dem Kolosseum die Füße platt steht?

Man muss, um diese Frage zu beantworten, vielleicht etwas ausholen.

Nie mehr Tourist sein!

Was Gäste im Garten finden, kommt später auf die Tafel im Hof.

© Marius Buhl

Nie war Urlaubmachen leichter als heute. Eigentlich braucht man, um zu verreisen, nur noch das Smartphone: Mit der Easyjet-App bucht man sich einen Flug für 30 Euro nach Sizilien, Korsika, Oslo, Mietwagen nicht vergessen. Findet über die Airbnb-App günstig und unkompliziert eine Unterkunft, sucht sich bei TripAdvisor das bestbewertete Restaurant der Stadt. Versteht man die Speisekarte nicht, hilft Google Translate. Die Reisefotos lädt man bei Instagram hoch, keine Diavorträge mehr nötig.

Das Internet hat das Reisen aber nicht nur zu einem Kinderspiel gemacht, es verändert es auch. Der Schweizer Gasthof Aescher Wildkirchli musste im vergangenen Jahr schließen, weil er zu einem Instagram-Hotspot geworden war. Dank Tripadvisor stürzen sich Touristen auf wenige, super bewertete, schnell ausgebuchte Restaurants. Die kroatische Stadt Dubrovnik wird überrannt, weil dort die Serie „Game of Thrones“ spielt. Jetzt haben die Behörden Kameras installiert. Sind die Straßen zu voll, müssen Touristen draußen bleiben. Durch Luzern zog gerade eine chinesische Reisegruppe mit – Achtung! – 12 000 Menschen. In Venedig protestieren die Anwohner schon lange gegen die Horden, und in Barcelona zerstechen Einheimische Urlaubern die Autoreifen.

Während sich die einen gegenseitig auf die Füße treten, sehnen sich die anderen längst nach einer anderen Art des Reisens. Echter soll es sein, authentischer. Was ist das Kolosseum noch wert, wenn jeder schon da war?

Diese Sehnsucht nach Echtheit bedienen die Experiences. Wer Locals zuhört, sich von ihnen bekochen lässt, der bekommt den Blick hinter die Kulissen. Zu Gast bei Einheimischen, die zu Freunden werden könnten, so stellt man sich das zumindest vor. Die Experiences als Antwort auf den Over-Tourism unserer Zeit. Nie mehr Tourist sein!

Airbnb hat seine weiße Weste längst beschmutzt

Die Spanne der angebotenen Erlebnisse ist groß. Sucht man in Berlin, findet man zum Beispiel den Soziologen Jeff, der für 29 Euro eine Tour zu historischen Stätten des Berliner Nacht- und Sexlebens anbietet. „Wenn du von woanders kommst und verstehen willst, warum Berlin so eine liberale Stadt ist, musst du diese Tour buchen“, schreibt ein User. Zwei Frauen, Regina und Valerie, die erste vor 58 Jahren im Osten geboren, die zweite vor 36 im Westen, bieten eine Tour an, um Besuchern das Leben mit der Mauer näherzubringen. „Intim, herzzerreißend und erhebend“, schreibt jemand.

Nicht jede Tour bietet Touristen diesen Mehrwert. Mit Influencerin Andrea kann man einen Instagram-Spaziergang durch „F-Hain“ machen, „one of the coolest places in Berlin.“ Auf der anderen Seite würde man schon gerne mal wissen, wie das Leben so ist als Influencerin.

Kritik einzuwenden gegen die Experiences, fällt dennoch leicht. Klassische Stadttouren konnte man schon immer buchen, viele mit gut ausgebildeten Guides, viele günstiger. Auch der Anbieter, Airbnb, hat seine weiße Weste längst beschmutzt, drei Millionen Übernachtungsangebote listet die Firma, den Wert des „Start-ups“ schätzen Experten auf zirka 30 Milliarden Euro. Galt das Angebot mal als nachhaltig und sozial, steht es heute in der Kritik, Wohnraum zu verknappen, Gentrifizierung zu beschleunigen. Städte bereiten Klagen gegen das Unternehmen vor. Die Experiences, so kann man es auch sehen, sind der Versuch des Unternehmens, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Während Anbieter einer Wohnung nur drei Prozent der Einkünfte an Airbnb abdrücken müssen, sind es 20 Prozent für die Anbieter von Experiences.

„Es gibt hier Tausend Dinge, von denen kein Tourist weiß“

Und die Echtheit des Ganzen, die viel beschworene Authentizität? Die sei, so schreibt es zum Beispiel “Zeit Online“, „mit Vorsicht zu genießen“. Letztlich enthalte jedes Angebot, das Authentisches zu zeigen suggeriert, einen Moment des Betrugs. „Es gibt für Touristen kein Leben außerhalb des Tourismus.“

Bei Fabio Santuccio auf dem Bauernhof hat man dieses Gefühl irgendwie aber schon. Er erzählt von den vielen Freunden, die er durch die Experiences gewonnen habe, auf der ganzen Welt. Ein Journalist von der „New York Times“ zum Beispiel sei ein guter Bekannter geworden, der jetzt, von ihm inspiriert, nach seiner eigenen Farm auf Sizilien suche. Ein britisches Paar habe sich eine Patenschaft an einem seiner Olivenbäume gekauft, für 180 Euro im Jahr pflegt ihn Santuccio und schickt ihnen nach der Ernte die Oliven des Baumes als Öl zu. Einmal im Jahr fliegt er auch nach Berlin, packt sich die Koffer voll mit seinen Produkten und kocht ein Dinner für 30 Freunde aus ganz Europa. Er hat Anfragen von Restaurants aus London und Kopenhagen.

„Airbnb“, sagt Santuccio, „hat es mir ermöglicht, meiner Leidenschaft für diesen Hof, aber auch für Sizilien eine Bühne zu geben.“ Langfristig könne das Angebot einer strukturschwachen Region wie seiner helfen, das touristische Potenzial auszuschöpfen. „Es gibt hier Tausend Dinge, von denen kein Tourist weiß.“ Alte Ausgrabungsstätten, Picknickplätze, verborgene Seen im Hinterland. „Stattdessen“, sagt Santuccio, „rennen alle zu denselben Hotspots. Das Ziel muss es sein, die Touristenmassen besser zu verteilen und ihnen zu vermitteln, warum dieser Fleck Erde einzigartig ist.“

Für ihn sind die Experiences nur der erste Schritt. Langfristig will er darauf nicht mehr angewiesen sein. Gerade baut er schon an einer Art Konkurrenzplattform, Eloro District heißt sie. Sie verbindet viele kleine Anbieter seiner Region, Südostsizilien, die darauf ihre Erlebnisse anbieten sollen – ohne dafür 20 Prozent an Airbnb zu bezahlen. Außerdem bietet die Website sizilianische Rezepte, typische Produkte und Tipps für Strände, an denen sonst nur Einheimische baden.

Haben Airbnb, Instagram oder Tripadvisor den Tourismus von oben nach unten revolutioniert – Fabio Santuccio arbeitet in umgekehrter Richtung.

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