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Dauernd woanders. Kommt er neu in eine Stadt (hier in Lissabon), sucht sich Geoff Dyer sofort ein Stammcafé, in dem er stets das Gleiche bestellt.

© imago

Interview mit Geoff Dyer: Der widerspenstige Reisende

Der preisgekrönte britische Schriftsteller Geoff Dyer verrät, warum er sich in China so wohlfühlt und ihm L.A. Angst macht.

Geoff Dyer, 61, liebt Umwege und Abwege. Der vielfach preisgekrönte Autor gilt als eine der originellsten britischen Stimmen, egal, ob er über Kunst, Jazz, D.H. Lawrence oder das Unterwegssein schreibt, wie zuletzt in „White Sands: Erlebnisse aus der Außenwelt“ (Dumont).
Mr. Dyer, Sie reisen um die ganze Welt, aber egal, wo Sie hinkommen, Sie suchen sich immer gleich ein Stammlokal, in das Sie jeden Tag hingehen und das Gleiche bestellen ....

…. als wäre ich gefangen in einem Thomas Bernhard'schen Ritual.
In New York sind das Donuts, in Los Angeles Croissants. Jetzt verbringen Sie ein paar Wochen in Berlin. Haben Sie bei Distrikt Coffee, Ihrem Lieblingscafé in Mitte, schon ein Lieblingsgericht gefunden?
Ja! Pochierte Eier. Aber gestern habe ich der Kellnerin gesagt: Wenn ich die morgen wieder ordere, dürfen Sie sie mir nicht bringen. Wie ein Drogenabhängiger. (Dyer bestellt bei der Kellnerin frischen Orangensaft, die Superfood Bowl und einen Flat White.) Ich gehe soo gerne frühstücken! Morgens kann ich gar nicht zu Hause bleiben.
Warum fahren Sie denn überhaupt irgendwohin, wenn Sie keine Lust auf Unbekanntes haben?
Früher bin ich gar nicht gerne gereist. Ich habe gelernt, es zu mögen, indem ich jeweils für längere Zeit an einen Ort gefahren bin. Das ergab die richtige Mischung – einerseits ist alles neu, andererseits hat man so was Vertrautes.
Wenn Ihnen das Reisen eigentlich gar keinen Spaß macht, wieso haben Sie sich dazu gezwungen?
In meiner Kindheit sind wir nie irgendwohin gefahren, höchstens mal in ein englisches Seebad. Und das war immer ganz schlimm, weil mein Vater nichts so hasste wie Geld auszugeben. Mit 18 hatte ich das Gefühl, ich sollte mal damit anfangen. Außerdem habe ich den Schriftsteller D. H. Lawrence wahnsinnig bewundert, und der ist so viel gereist. Also habe ich langsam begonnen. Nur hat es mir keinen großen Spaß gemacht. Das hat sich erst mit Anfang 30 geändert.
Und was hat Ihnen nicht gefallen?
Ich konnte keine Fremdsprachen, und weil ich durch meinen Vater geprägt war, erschienen mir Hotels als ungeheure Geldverschwendung. In Venedig habe ich einfach vor dem Bahnhof geschlafen. Da war ich 25 und bin gar nicht auf die Idee gekommen, in eine Jugendherberge zu gehen.
Und heute, als erfolgreicher, preisgekrönter Autor, lassen Sie sich in teure Hotels einladen.
Oft, ja. Aber mit 60 bin ich auch psychisch bereit, für Dinge zu zahlen.
Cheltenham, wo Sie aufgewachsen sind, war vermutlich ziemlich englisch?
Damals war es überall in England sehr englisch. In den 70er Jahren hatte man oft noch das Gefühl, in der Nachkriegszeit zu stecken. Ein Leben voller Entbehrungen, mit schrecklichem Essen, etwa in der Schulcafeteria. Die einzigen exotischen Speisen, die ich als Brite meiner Generation kannte, waren indische Currys. Insofern war ich auf Asien gut vorbereitet. Ich fahre wahnsinnig gern dorthin.
Was begeistert Sie so?
Die buddhistischen Tempel in Thailand zum Beispiel. Oder die Pingpong-Clubs, die es in China überall gibt, wo man von Zehnjährigen geschlagen wird. Meine Tischtennisausrüstung habe ich auf Reisen immer dabei. Außerdem fühle ich mich in China als Einzelkind total zu Hause, als hätte ich 20 Milliarden Brüder und Schwestern. Die haben ja auch alle keine Geschwister.
Das reicht, um sich wohlzufühlen?
Doch. Ich bin mir sicher, dass das einer der Gründe ist, warum es mir dort so gut gefällt. Ich habe da eine schöne Verbindung gespürt. So wie in Kenia: Da war ich plötzlich umgeben von Menschen mit der gleichen Figur wie ich, lang und dünn.
Ihre reiselustige Tante hat Ihnen als Kind Landkarten und Postkarten aus den USA geschickt. Als Sie selber dorthin gefahren sind, hat die Wirklichkeit Sie enttäuscht?
Im Gegenteil. Die amerikanischen Nationalparks sind atemberaubend. Niemand kommt vom Grand Canyon zurück und sagt: Oh, der war gar nicht so groß, wie ich dachte.
Wirklich keine Realitätsschocks?
Als Siebenjährigem in England damals wurden einem die Lebensgeister vom Regen zerstört. Du hast dich auf was gefreut – und dann hat’s wieder geschüttet. Die Wolken hatten so was Niederdrückendes. Und dann kommst du in den amerikanischen Westen und fühlst, wie dein Geist sich öffnet. Dieser unendliche Himmel. Ich liebe, liebe die unermessliche Weite der Wüste im Südwesten der USA.
Hatten Sie je Heimweh?
Oh, ja, schreckliches, als ich klein war. Meine Eltern haben immer gesagt: Dagegen kann man nichts machen. Keine Ahnung, woher sie das wussten, weil sie ja nie irgendwo waren. Es gibt nämlich was, was man dagegen tun kann. Du hältst einfach durch.
Wenn Sie so gern an Orte zurückkehren, die Sie schon kennen, ist das wirklich immer so schön wie beim ersten Mal?
Ich neige leider dazu, einmal zu oft zurückzugehen. Es ist so, als würde man einen Zauberer immer wieder nach seinem Kartentrick befragen, wie er das macht. Eines Tages siehst du, wie es funktioniert – und wünschtest, du wüsstest es nicht.
Vor einigen Jahren sind Sie nach Los Angeles gezogen, wo Ihre Frau einen Job als Kuratorin bekommen hatte. Für jemanden, der Autos so hasst wie Sie, muss das eine schwere Strafe sein.
Früher bin ich wahnsinnig gern in Amerika Auto gefahren. Inzwischen habe ich eine regelrechte Phobie dagegen entwickelt. Auf den Freeways in L.A. kriegt man so eine Angst! Es gibt viele Städte in der Welt, die durch den Verkehr ruiniert werden. Waren Sie mal in São Paolo? Unglaublich. Aber es gibt auch einen positiven Aspekt: In den Nachbarschaften entwickelt sich zunehmend Leben, weil die Leute nicht mehr dauernd fahren wollen.
In L.A. erlitten Sie einen Schlaganfall. Setzt Sie das unter Druck, jetzt schnell noch mehr zu sehen?

Nein. Es war ein leichter. Ich wünschte nur, ich hätte meine 20er nicht damit verschwendet, Bier in englischen Pubs zu trinken. So was Dämliches! Englische Pubs waren ein Ort für Männer. Wenn man in Paris in ein Café kommt, sitzen da Männer und Frauen. Aber in England gab’s damals keine Alternative, keine netten Cafés. Man konnte nur in den Pub gehen oder zu Hause bleiben und lesen.
In Ihrem jüngsten Buch „White Sands“ wimmelt es nur so vor Enttäuschungen. Sie haben mal gesagt, dass diese nur Spiegel Ihrer großen Erwartungen seien, Ihrer romantischen Sehnsucht. Aber manchmal liest es sich, als hätten die negativen Erlebnisse Ihnen besonderes Vergnügen bereitet.
Ich bin einmal mit meiner Frau nach Norwegen gefahren, um das Nordlicht zu erleben. Schrecklich! Nichts haben wir gesehen. Aber noch während wir dort waren, konnte ich das große Potenzial für einen Text erkennen. Meine Frau hat einen Job, deswegen will sie immer in Ferien fahren. Ich nie. Wozu?! So eine Reise, wie die ans Nordkap wäre verheerend, wenn ich nicht darüber schreiben könnte. Das ist das Glück von Autoren: Alles kann umgedreht werden. Das hat was Erlösendes.
Wo fühlen Sie sich heute mehr zu Hause, in London oder L.A.?

Wahrscheinlich werden wir in ein paar Jahren nach London zurückziehen. Ich vermisse Europa sehr. Wenn meine Frau und ich unterwegs wären, und jemand würde uns sagen: Es gibt keine Flüge mehr nach L.A., nie mehr, wir würden es nicht bedauern. Wir haben den Eindruck, man könnte 100 Jahre dort leben, ohne sich als Teil der Stadt zu empfinden. In New York ist das völlig anders: Da haben wir nach einer Woche das Gefühl, dazuzugehören. Es gibt kein Gefühl von Zuhause in L.A.
So schlimm?
Mir ist klar geworden, dass Glücksgefühle für mich mit Inklusivität zusammenhängen. In der Werbung wird ja immer das Exklusive betont: ein exklusives Resort, ein exklusives Hotel. Aber mich macht das Gefühl, dazuzugehören, happy. So wie es mir passiert, wenn ich irgendwo hinkomme und mit jemandem Tennis spiele. Das ist ein fast körperliches Wohlgefühl.
Und wie erklären Sie sich, dass Sie das in Los Angeles nicht erleben?

Weil ich kein Interesse habe, für die Filmbranche zu arbeiten. Dann die Architektur, dieses Sichausbreiten der Stadt. Wir fahren oft durch Bel Air und fragen uns jedes Mal, wie kann da irgendjemand leben?! Das ist doch die Hölle, selbst um eine Dose Cola zu kaufen, muss man sich ins Auto setzen. Und, völlig anders als in New York, der fehlende Sinn für Humor. Natürlich gibt es witzige Menschen dort. Aber in London kann man ohne Humor keinen Tag überleben. In L.A, wo das Wetter perfekt ist, das Essen ebenfalls, und alle einen perfekten Körper haben, braucht man den nicht.

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