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Ismet Tekin vor seinem Imbiss in Halle: "Den Prozess schaue ich mir an."

© Hannes Heine

Vor dem Prozess gegen den Attentäter von Halle: „Ich will wissen: Was geht in diesem Mann vor?“

Die Kugeln verfehlten ihn nur knapp, verfolgen ihn im Traum. Wenn der Attentäter von Halle vor Gericht steht, wird Ismet Tekin genau hinhören.

Die Einschusslöcher in der Fassade sind deutlich zu sehen, zwei Zentimeter tiefe Krater. Die Striche, mit denen die Spurensicherung der Polizei die Stellen markierte, an denen die Kugeln einschlugen, sind noch da.

Vor dem Gründerzeithaus im Paulusviertel von Halle steht Ismet Tekin und zeigt auf ein geparktes Auto. An dieser Stelle in der Ludwig-Wucherer-Straße ging er am 9. Oktober 2019 vor den Geschossen in Deckung, die über ihm in die Wand einschlugen. So überlebte Tekin, 36, Gastronom, das Attentat von Halle.

„Manchmal träume ich davon“, sagt er. „Mal sehen, wann das aufhört.“ In den nächsten Monaten wohl nicht. Trotz Pandemie soll im Juli der Prozess zur Tat beginnen, die nicht nur Halle, nicht nur Deutschland erschütterte. Wegen zweifachen Mordes und 68-fachen Mordversuchs muss sich Stephan Balliet, 28, erwerbslos, vor dem Oberlandesgericht Naumburg verantworten.

Der Generalbundesanwalt klagt Balliet in einer 121 Seiten umfassenden Schrift auch der räuberischen Erpressung, gefährlichen Körperverletzung und Volksverhetzung an. Balliets Taten hätten das Potenzial, teilte die Bundesanwaltschaft mit, das Ansehen der Bundesrepublik zu schädigen. „Den Prozess schaue ich mir an“, sagt Tekin. „Ich will wissen: Was geht in diesem Mann vor?“

Lässt es die Coronakrise zu, wird jeder Platz besetzt sein

Am Samstag vergangener Woche versucht Balliet aus der Untersuchungshaft in Halle zu fliehen, er überwindet einen 3,40 Meter hohen Zaun, bewegt sich minutenlang unbeobachtet in der Anstalt. Nach dem Fluchtversuch wird er ins Gefängnis Burg bei Magdeburg verlegt. In der Landeshauptstadt findet aus Platzgründen auch der Prozess statt, 18 mögliche Verhandlungstage bis in den Oktober. Am dortigen Landgericht wurde dafür die Bibliothek zu Sachsen-Anhalts größtem Gerichtssaal umgebaut: 300 Quadratmeter – lässt es die Coronakrise zu, wird jeder Platz besetzt sein.

Wenig los ist dagegen seit Wochen im „Kiez-Döner“, dem Lokal von Ismet Tekin. Das hat auch mit der Pandemie zu tun, wie so viele Gaststätten ist der Laden zwischendurch geschlossen. Doch Tekin berichtet, dass schon im Januar, also zwei Monate vor den Masseninfektionen, die üblichen Gäste fehlen.

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An einem Nachmittag vor einigen Wochen spricht Tekin über den Anschlag. Als Wirt bittet er an das Tischchen, das vor dem Lokal steht, lässt Tee bringen. „Nach dem Angriff sagten viele Leute, sie würden vorbeikommen – die gaben uns Mut weiterzumachen“, sagt Tekin. „Doch es wurde nicht mehr so voll wie vor den Schüssen. Liegt das daran, dass bei uns ein Mensch getötet wurde?“

Getötet von einem Mann, der als rechtsextremer Verschwörungstheoretiker im Internet aktiv war, bevor er zum Attentäter, zum Doppelmörder wurde. Das ergeben dessen Aussagen in den Verhören. Er habe, sagte Stephan Balliet den Ermittlern, möglichst viele Juden töten wollen. Der Attentäter habe sich, vermuten Beamte, an den Massakern von Christchurch, El Paso, Utøya orientiert. Balliet offenbart sich nach der Tat nicht nur umfassend den Ermittlern, er hat sein Verbrechen auch in einem Video festgehalten und im Netz ein auf Englisch verfasstes Pamphlet hinterlassen. Seine Tat, das gilt unter Juristen als ausgemacht, ist weitgehend aufgeklärt.

51 Menschen feiern gerade Jom Kippur

An jenem Mittwoch im vergangenen Oktober zieht Balliet eine Tarnuniform an, packt Schusswaffen und Sprengsätze in einen gemieteten VW. Der Mordzug, den er durch die Kamera eines an seinen Helm montierten Smartphones live ins Internet übertragen lässt, beginnt um 12.01 Uhr in der Humboldtstraße vor Halles Synagoge. Balliet wirft Sprengsätze über die Mauer, will dann in das Gotteshaus eindringen – wo 51 Kinder, Frauen, Männer gerade Jom Kippur feiern.

An der Schwelle zu Halles Synagoge. Die Tür hielt den Schüssen stand.
An der Schwelle zu Halles Synagoge. Die Tür hielt den Schüssen stand.

© Hannes Heine

Die Tür in der Mauer aber lässt sich nicht öffnen. Balliet tritt dagegen, beschießt sie mit einem Gewehr – die Tür hält. Er bricht den Versuch ab und tötet Jana L., 40, die zufällig an der Synagoge vorbeiläuft. In der Ferne sieht er eine weitere Passantin, Mandy R., legt die Maschinenpistole an – die selbstgebaute Waffe hat eine Ladehemmung.

Um 12.03 Uhr ruft aus der Synagoge der Gemeindevorsteher Max Privorozki, 57, Mathematiker, über 112 den Notruf an. In die Humboldtstraße biegt zugleich Kurierfahrer Stanislaw G. ein, sieht Jana L. liegend, steigt aus seinem Auto. Auch auf ihn zielt Balliet, drückt den Abzug – erneut klemmt die Maschinenpistole. Balliet will zur Schrotflinte greifen, G. rennt zum Auto rast weg. Nun fährt auch Balliet los, biegt nach 500 Metern in die Ludwig-Wucherer-Straße ab, sieht Ismet Tekins Arbeitsplatz – einen im Viertel bekannten Imbiss – und raunt unter seiner Helmkamera: „Döner? Nehm’ wir!“

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Während Tekin sieben Monate später über die Tat spricht, grüßen Passanten auffällig oft. Ein Vater mit Kind bleibt für ein paar Sätze stehen, zwei Frauen nicken freundlich, ein Radfahrer winkt. Ein Bekannter aus Aserbaidschan ruft über die Straße: Alles gut? Schwierig.

Nach der Tat bleibt der „Kiez-Döner“ 40 Tage zu. So will es der Betreiber, islamische Trauerzeit. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Innenminister Horst Seehofer kommen vorbei.

Sein Bruder ruft ihn an, er rennt sofort zum Imbiss

Damals, am 9. Oktober, stürmt Balliet mit der Maschinenpistole und einer sogenannten „Einzelladerwaffe“, die also zunächst nur eine Kugel verschießt, den Laden. Neben Ismets Bruder Rifat, der am Tresen steht, befinden sich Wolfgang B., Bernd H., Conrad R. und Kevin S. dort. Balliet zielt auf die Gäste, doch abermals klemmt die Maschinenpistole. B., H., R. und Rifat Tekin können fliehen, letzterer ruft seinen Bruder Ismet an, der sofort zum Imbiss rennt.

Kevin S., 20, Maler, hockt noch zwischen den Kühlschränken. Balliet verwundet ihn mit der Einzelladerwaffe, geht zum Auto, holt die Schrotflinte. Dabei sieht er Malek B. auf der anderen Straßenseite, der Tunesier rennt rechtzeitig weg. Balliet geht in den „Kiez-Döner“ zurück, läuft zu Kevin S. und erschießt ihn.

„Das ist doch Wahnsinn, das ist doch alles so brutal, so verrückt“

Er habe ihn, sagt Balliet später, für einen Muslim gehalten. Wieder draußen sieht der Attentäter nun Abdülkadir B., der sofort flieht und dabei Ismet Tekin auf der Straße entgegenrennt. Beide ducken sich hinter Autos, die Geschosse schlagen in die Hauswände ein. „Das ist doch Wahnsinn, das ist doch alles so brutal, so verrückt“, sagt Tekin heute. „Wie kann das alles sein?“

In Halles Paulusviertel sind heute noch die Einschusslöcher und Markierungen der Spurensicherung zu sehen.
In Halles Paulusviertel sind heute noch die Einschusslöcher und Markierungen der Spurensicherung zu sehen.

© Hannes Heine

Am 9. Oktober trifft vor dem „Kiez-Döner“ um 12.16 Uhr der erste Polizeiwagen ein. Die Beamten stellen sich quer vor Balliets Miet-VW. Ein Feuergefecht beginnt, ein Streifschuss verletzt Balliet, der zudem versehentlich einen Reifen seines Wagens zerschießt. Trotzdem entkommt Balliet mit dem Mietauto. „Alle Waffen haben versagt“, brabbelt er in seinen Internetclip. „Billiges Equipment hält nicht.“ In Landsberg östlich von Halle will Balliet das Auto wechseln, schießt zwei weitere Menschen nieder, sie überleben, raubt in einer Autowerkstatt ein Taxi. An einer Baustelle auf der B 91 prallt er damit in einen Lastwagen. 13.38 Uhr Festnahme, nun ohne Widerstand.

Nach der Tat bauen Freunde des getöteten Malers, Angehörige und Nachbarn vor dem „Kiez-Döner“ eine Gedenktafel auf. Kevin S. war Fan des Halleschen FC, dutzende Anhänger des Drittliga-Vereins sind da. Blumen, Kerzen, Plakate. Im Lokal wird renoviert. Zur Wiedereröffnung schenkt der Betreiber den Laden dann Ismet Tekin und seinem Bruder. In der Urkunde steht: „Ich wünsche meinen Nachfolgern viel Kraft, um das schreckliche Ereignis vom 09.10.2019 zu verarbeiten und viele Kunden unterschiedlicher Kulturen und Religionen.”

Politiker, Anwohner, Fußballfans kommen zum Döner

Zur Wiedereröffnung kommt auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, dazu wieder Anwohner, Studenten, Fußballfans. Noch mal ist der Laden voll. Drinnen wird eine kleine Tafel für „Jana & Kevin“ angebracht.

Zu jener Zeit wird Balliet in der Untersuchungshaft von Ermittlern des Bundeskriminalamtes verhört. Er war ein vergleichsweise guter Schüler, bei der Bundeswehr unauffällig. Nach einer schweren Operation bricht Balliet sein Chemiestudium ab, lebt bei seiner Mutter, einer Lehrerin, in Benndorf bei Halle. Die viele Zeit, die Balliet hat, verbringt er vor dem Computer, in von Verschwörungsideologen besuchten Foren, in denen es oft um reale und vermeintliche Juden geht. So sind im kleinen Zimmer des späteren Attentäters die Juden schuld – an den Frauen, die sich nicht für Balliet interessieren, an der Flüchtlingskrise, am Chaos in der großen Welt.

Stück für Stück besorgt sich Balliet die Teile, die er im 3-D-Drucker zu Mordwerkzeugen zusammensetzt. Auch die Chemikalien für die Sprengsätze kosten, Balliet verkauft gesammelte Spielfiguren für 4000 Euro über Ebay. Das Klebeband, mit dem er die Handgranaten abdichtet, liegt im Keller der Mutter rum.

Er mag Halle: "Es ist ruhig, aber nicht zu ruhig"

Im „Kiez-Döner“ räumt Tekin ein paar Kisten aus, setzt sich wieder ans Tischchen vor dem Lokal. Grüßende Passanten kommen immer noch vorbei, man kennt ihn im Paulusviertel. Essen bestellt niemand.

Tekin wächst in einem Dorf in Kurdistan auf, lebt einige Jahre in Istanbul, kommt 2008 nach Deutschland. Hier arbeitet er in Läden und auf dem Bau, in Bremen, Köln, Berlin – in Halle wohnt er. Einige Wochen nach dem Attentat zieht seine Freundin aus der Türkei zu ihm. „Ich mag die Stadt, es ist ruhig, aber nicht zu ruhig“, sagt Tekin. Mit einem großen Arbeitgeber, einem Konzern, ginge es Halle aber besser.

Die Synagoge von Halle wird seit dem Anschlag besser geschützt.
Die Synagoge von Halle wird seit dem Anschlag besser geschützt.

© Hendrik Schmidt/dpa

Die Synagoge, das erste Angriffsziel Balliets, befindet sich fünf Fußminuten vom „Kiez-Döner“ entfernt. Max Privorozki, der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Halle, hat Balliet am 9. Oktober über die Bilder der Sicherheitskamera gesehen. „Der Mann schoss auf unsere Tür, trat dagegen”, sagt Privorozki. „Die Tür aber – Gott sei Dank! – blieb zu.“ Vor der Synagoge steht nun ein Wachhäuschen der Polizei, die hat die Sicherheitsmaßnahmen angepasst.

In Justizkreisen wird auf das Geständnis, die Kooperation des Angeklagten verwiesen – mildernde Umstände seien das aber nicht. Denn da ist der Umfang der Tat, der Vernichtungswille: Balliet hatte ein Schwert, zwei Messer, acht Schusswaffen sowie mehr als 40 selbstgebaute Splittergranaten, Brand- und Nagelbomben in seinem Wagen.

Es wird darum gehen, ob eine besondere Schwere der Schuld vorliegt

In Deutschland gilt das Asperationsprinzip. Das bedeutet, für jedes Verbrechen gilt eine gesonderte Strafe, die aber im Urteil nicht addiert werden. Verhängt wird die höchstmögliche Einzelstrafe. In diesem Fall ist das die lebenslängliche Freiheitstrafe. In Balliets Fall wird es darum gehen, ob eine besondere Schwere der Schuld vorliegt. Wenn ja, dann kann die Haft nicht nach 15 Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden.

„Wichtiger als das Strafmaß – und es sollte hoch sein – ist volle Transparenz“, sagt Rechtsanwalt Onur Özata. „Wie hat sich der Täter radikalisiert, zu wem hatte er Kontakt?“

Özata vertritt Ismet Tekins Bruder Rifat als Nebenkläger. Özata, 36, hat sein Staatsexamen vor sieben Jahren absolviert, der Berliner Anwalt gilt als Spezialist für die juristische Aufarbeitung rechtsextremer Terrorakte: Er war Nebenklageanwalt im NSU-Prozess und im Verfahren um den Waffenhändler des Amokläufers am Münchner Olympiazentrum, aktuell vertritt er mehrere Holocaust-Überlebende im Prozess gegen den SS-Wachmann Bruno D., der im KZ Stutthof tausendfach Beihilfe zum Mord geleistet haben soll.

Nach einem Fluchtversuch wurde der Angeklagte in die Justizvollzugsanstalt Burg verlegt.
Nach einem Fluchtversuch wurde der Angeklagte in die Justizvollzugsanstalt Burg verlegt.

© Ronny Hartmann/dpa

Nun also Halle. Um Schadenersatz geht es Özata nicht, der Angeklagte sei ohnehin mittellos. Aber restlos aufklären sollten die Behörden die Tat, da werde man vor Gericht – wenn nötig – Druck machen, sagt der Anwalt: „Für die Opfer ist wichtig, dass anerkannt wird, warum sie angegriffen wurden – nämlich weil ein Rechtsextremist ihnen kein Leben in Deutschland zugestehen wollte.“

Nun wird auch gegen einen Polizisten ermittelt

Auch nach dem Angriff vom 9. Oktober wird Halles jüdische Gemeinde in E-Mails bedroht – der, so muss man es sagen, übliche Antisemitismus. Am Freitag wird bekannt, dass in Halle gegen einen Polizisten ermittelt wird, der vor einem Gebäude der Jüdischen Gemeinde auf ein aus Zellstoff gefertigtes Hakenkreuz getreten und es stillschweigend beseitigt haben soll. Gegen ihn wird wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt ermittelt. Der Polizei wurde in eine andere Dienststelle versetzt.

Beim Prozess in Magdeburg wird auch Gemeindevorsteher Privorozki erwartet, als Zeuge und Nebenkläger. „Auch ich hoffe, dass das Gericht aufklärt, wie der Sohn einer Lehrerin diesen antisemitischen Wahn entwickeln konnte“, sagt Privorozki. „Ich selbst aber möchte so wenig wie möglich im Prozess sein.“ Stephan Balliets Fluchtversuch hat ihn entsetzt. Wenn Sicherheit bedeute, dass Juden sich einmauern müssten, sagt Privorozki, sollte man vielleicht die Koffer packen.

Ismet Tekin sagt, sollte der „Kiez-Döner“ pleite gehen, werde er sich einen anderen Job suchen. „Ich finde schon was, ich bin fleißig. Wäre doch aber schade, ohne den Laden – für uns, für Halle, für alle!“ Und so wartet Tekin, ob nicht doch noch genug Gäste kommen.

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