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Sokolow lebte die Rolle des französischen Kaisers.

© Denis Sinyakov,AFP

Häusliche Gewalt in St. Petersburg: Falscher Napoleon zerstückelt Freundin

Ein russischer Professor gesteht die Bluttat an seiner Studentin und Partnerin. Der Fall zeigt ein gesellschaftliches Problem: den Umgang mit häuslicher Gewalt.

Es ist früh am Morgen am vergangenen Sonnabend. Im Zentrum von St. Petersburg ziehen Passanten einen angetrunkenen Mann aus der eisigen Moika, einem Nebenfluss der Newa. Die Retter halten ein Taxi an, das bringt den Mann ins Marine-Krankenhaus. Der 63-Jährige hat starke Unterkühlungen. Als man ihn aus dem Wasser zog, trug er einen Rucksack bei sich. Der Inhalt ist grausig: zwei Frauenhände und eine Pistole. Später findet die Polizei in der nahegelegenen Wohnung des Mannes den verstümmelten Torso der jungen Frau, noch später die abgetrennten Füße.

Bis zum Montag veröffentlichen die Zeitungen St. Petersburgs immer mehr Details in dem Fall. Bei dem Opfer handelt es sich um die 24-jährige Anastassja Jeschtschenko, Doktorandin der Petersburger Universität. Die junge Frau lebte mit dem 63-Jährigen zusammen. Der gesteht das Verbrechen rasch und die Stadt ist entsetzt: Der Täter Oleg Sokolow ist eine angesehene Persönlichkeit in der wissenschaftlichen Gemeinde weit über die Grenzen von St. Petersburg hinaus. Er ist Historiker, der bedeutendste Napoleon-Forscher Russlands. Zudem ein führendes Mitglied der Russischen Militärgeschichtlichen Gesellschaft. Die verleugnet ihr Mitglied nach dem Verbrechen eilig, sein Name wird von der Online-Liste gelöscht.

Sokolow hielt Vorlesungen an der Pariser Sorbonne, er ist Ritter der französischen Ehrenlegion. Der Wissenschaftler hat nicht nur über Napoleon geforscht, er hat in der Rolle des Kaisers der Franzosen gelebt. Exzentrisch sei Sokolow, sagen Bekannte über ihn, die in den Medien zitiert werden. In den Vorlesungen habe er das Auditorium minutenlang pathetisch auf Französisch angeschrien. Studenten sagen auch, er sein ein tyrannischer Lehrer gewesen. Fotos zeigen Sokolow in der Galauniform des Kaisers, zum Tanz führt er seine Anastassja. Auf anderen ist er in Inszenierungen historischer Schlachten zu sehen. In den Vernehmungen gibt Sokolow zu Protokoll, er habe seine Partnerin in einem Streit im Affekt erschossen. Danach wollte er die Leiche – zerstückelt – verschwinden lassen.

Ein Einzelfall, gewiss. Doch nach Ansicht von Aljona Sadikowa von der Moskauer Frauenrechtsinitiative Kitesch Krisen Zentrum verweist er auf ein gesellschaftliches Problem in Russland: den Umgang mit häuslicher Gewalt. Die war bis Anfang 2017 ein Straftatbestand, Tätern drohten bis zu zwei Jahre Haft. Dann beschloss die Duma auf Initiative der Kreml-Partei „Einiges Russland“ eine Gesetzesänderung, seither werden solche Fälle nur noch als Ordnungswidrigkeit eingestuft. Die Befürworter dieser Änderung argumentierten, der Staat müsse sich aus Familienangelegenheiten heraushalten, Eltern dürften nicht dafür bestraft werden, dass sie ihre Kinder erziehen. Schläge, die nicht zu einem Krankenhausaufenthalt führen, werden jetzt mit einem Ordnungsgeld von umgerechnet 80 Euro geahndet.

Sexismus im Parlament

Bezeichnend für die Zustände im russischen Parlament war im vergangenen Jahr der Fall des Abgeordneten Leonid Sluzki. Frauen hatten dem Vertreter der faschistoiden Shirinowski-Partei und Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses sexuelle Belästigung vorgeworfen. Als auch eine Journalistin sexistische Übergriffe öffentlich machte, boykottierten Parlamentsberichterstatter einiger Medien die Duma. Sluzki wies alle Vorwürfe zurück. Die Versuche, aus ihm einen russischen Harvey Weinstein zu machen, seien eine „billige und minderwertige Provokation“. Nach der Erklärung verlief die Sache im Sande.

Die Statistik ist erschreckend. 36000 Frauen werden in Russland jeden Tag von ihren Ehemännern geschlagen. Zwischen 12000 und 14000 Frauen sterben jedes Jahr nach häuslicher Gewalt. Doch eine breite gesellschaftliche Diskussion gibt es nicht. Aktivistinnen wie die Sängerin Manizha, die die Zahlen vor einiger Zeit in einen Youtube-Clip einbaute, sind Einzelkämpferinnen. Die MeToo-Kampagne hat das Land nie erreicht.

Eine Ausnahme ist der Fall der drei Schwestern Chatschaturjan. Krestina, Angelina und Maria hatten ihren Vater im Juli mit Dutzenden Messerstichen getötet, weil sie ihrem Martyrium ein Ende machen wollten. Der Mann hatte die drei täglich geschlagen und regelmäßig vergewaltigt. Nachbarn zeigten die Untaten an, doch die Polizei verfolgte sie nicht. Den jungen Frauen drohen bis zu 20Jahre Haft. Tausende solidarisierten sich in einer Petition mit den Schwestern.

Auch im Falle des Mordes in St. Petersburg bewegt sich etwas. In wenigen Stunden unterzeichneten 5000 Menschen eine Online-Petition, in der Ermittlungen gegen die Führung der Petersburger Universität gefordert werden. Sokolow sei mit Studenten „in monströser Weise“ umgegangen, heißt es darin. Zitiert wird eine Studentin, die den Professor schon 2008 angezeigt hatte. Er soll sie geschlagen und damit gedroht haben, sie mit einem Bügeleisen zu erschlagen. Das zeigte sie bei der Universitätsleitung an, doch vor Gericht kam der Fall nie. Außerdem existiert ein Video, das zeigt, wie ein Student auf Veranlassung Sokolows verprügelt wird. Die Uni-Leitung tat es als Fälschung ab.

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