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Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt (l) gibt dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel vor Beginn der Koalitionsgespräche in Bonn am 01.10.1969 zur Begrüßung die Hand. Die Bundestagswahl 1969 besiegelte das Ende der Großen Koalition, die seit 1966 von Kurt Georg Kiesinger geleitet wurde: Die Union hatte zwar nur leichte Verluste hinzunehmen, SPD und FDP erreichten aber zusammen einen Vorsprung von zwölf Mandaten. Willy Brandt wurde Bundeskanzler, Walter Scheel Außenminister.

© Peter Popp/dpa

1968 im Tagesspiegel: Eine Infas-Studie über die Konsequenzen des Dreier-Wahlsystems

Mitten in der Diskussion über ein neues Wahlrecht hat das Institut für angewandte Sozialwissenschaft eine Studie über das Dreier-Wahlsystem vorgelegt.

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 30. August 1968 stellte der Tagesspiegel eine Untersuchung des Infas-Instituts zum Wahlrecht vor.

Mitten in der Diskussion über ein neues Wahlrecht hat das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (Infas) eine Studie über das Dreier-Wahlsystem vorgelegt, für das sich ein Teil der SPD-Politiker ausgesprochen hat. Die Wissenschaftler des Godesberger Instituts sind zu dem Schluß gekommen, daß dem Dreier-Wahlrecht gerade die Eigenschaft fehlt, die ihm zugesprochen wurde: die Bildung klarer Mehrheiten. Nach Ansicht des Instituts besteht die Gefahr, daß die beiden großen Parteien etwa gleich stark aus der Wahl hervorgehen, so daß keine von ihnen in der Lage wäre, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Die Bundesrepublik hätte also nach Ansicht des Instituts ein Zweiparteiensystem, das nicht funktionieren würde.

Bei der Wahl in Dreierwahlkreisen gäbe es 166 Wahlkreise. In jedem dieser Kreise würden drei Abgeordnete gewählt werden, wobei jeder Wähler nur eine Stimme abgeben könnte. Innerhalb der Wahlkreise würden die Parlamentssitze nach den Regeln der Verhältniswahl errechnet werden. Ausgangspunkt der Infas-Untersuchungen war das Ergebnis der letzten Bundestagswahl. Das Institut errechnete, wie sich dabei in Dreier- oder auch Vierer-Wahlkreisen die Wählerstimmen in Parlamentssitze umgesetzt hätten. Es kam zu dem Ergebnis, daß durch das Dreier-Wahlrecht tatsächlich eine Konzentration auf zwei Parteien weitgehend erreicht würde. Kleine Parteien haben kaum eine Chance. Die FDP könnte höchstens mit einem einzigen Mandat im Bundestag rechnen.

Keine Gefahr der "politischen Verödung"

Die "politische Verödung", die ein relatives Mehrheitswahlrecht in einigen Regionen auslösen würde, würde der Untersuchung zufolge beim Dreier-Wahlrecht nicht eintreten, denn in den Hochburgen der einen Partei könnte auch die andere einen Abgeordneten durchbringen. Das Institut ermittelte, daß das Dreier-Wahlrecht einen leichten rechnerischen Vorteil für die SPD bringen würde, auch wenn sie beim Stimmenanteil um etwa ein Prozent hinter der CDU zurückliegt, würde sie genau so viele Abgeordnete erhalten wie die CDU. Beim Vierer-Wahlkreis hätte dagegen die CDU einen Vorteil.

Das Institut verweist aber auch auf Eigenschaften des Dreier-Wahlrechts, durch die für die SPD der Weg zur Macht hierbei auch nicht kürzer würde als beim geltenden Verhältniswahlrecht. Obwohl dieses Verfahren zum Zweiparteiensystem führt, reagiert es auf Änderungen im Wählerwillen nur in geringem Maße. Es ist bestenfalls halb so "empfindlich" wie das relative Mehrheitswahlrecht. Im Gegensatz zu dieser Aussage des Infas-Instituts war die Wahlrechtskommission der SPD davon ausgegangen, daß das Dreier-Wahlrecht der SPD die gleichen Chancen gäbe, die Mehrheit zu erhalten, wie ein Mehrheitswahlrecht. Um bei relativ geringen Stimmenunterschieden wieder zu klaren Parlamentsmehrheiten zu kommen, müßte man das Dreier-System durch das relative Mehrheitswahlrecht ersetzen. Daraus zieht die Infas-Studie den Schluß: "So betrachtet, sind Dreier- und Vierer-Wahlkreise lediglich Übergangssysteme, um die kleinen Parteien vom Bundestag fernzuhalten."

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