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Weltverbesserer. Ali Can bei einer Performance.

© Brachland Ensemble

Gegen die Ohnmacht in der Krise: „Bei mir setzt es Energie frei, wenn ich aufgebracht bin“

Für die Ukraine, gegen Nazis: Der Aktivist Ali Can wird für sein Engagement geehrt – aber auch bedroht. Hier erzählt er, wie er es schafft, sich nicht lähmen zu lassen.

Krieg in der Ukraine, Klimakatastrophe, Corona: Viele fühlen sich angesichts des Dauerkrisenmodus erschöpft, frustriert und ohnmächtig. Bei Ali Can ist das anders. Der 28-jährige Essener, der unter anderem die „Hotline für besorgte Bürger“ und den Hashtag #MeTwo initiiert hat, sagt: „Wenn etwas Schlimmes passiert, setzt das bei mir Energie frei, ich muss dann einfach was machen.“ Für sein Engagement für den Zusammenhalt in der Gesellschaft erhält Can nun das Bundesverdienstkreuz.

Herr Can, bis vor kurzem haben Sie sich auf Ihrer Website als „Sozialaktivist“ und „Menschenfreund“ vorgestellt. Der „Menschenfreund“ ist jetzt verschwunden. Sind Ihnen Zweifel gekommen?
Das war keine bewusste Entscheidung gegen diese Bezeichnung. Ich sehe mich immer noch so. Ich verstehe mich als Menschenfreund, weil ich überzeugt bin, dass es viele verschiedene Arten gibt, das Leben zu leben, und das auch vollkommen okay ist, solange niemand unterdrückt und andere respektiert werden. Ich will Menschen, die für Themen wie etwa Antirassismus noch nicht sensibilisiert sind, mitnehmen. Viele sind bereit, sich für neue Sichtweisen zu öffnen, brauchen dafür aber Zeit. Das gilt auch für mich. Ich habe vor einigen Jahren zum Beispiel noch ein Wort wie „Spast“ verwendet, einfach, weil ich nicht darüber nachgedacht hatte. Das sollte man nicht vergessen in seinem aktivistischen Eifer.

Sie sagen, Sie glauben an das Gute im Menschen. Aber der Mensch zettelt Kriege an, verwüstet den Planeten, beutet andere aus.
Das Gute ist trotzdem da. Nur wenn wir uns nicht darum bemühen, verkümmert es. Dann darf man sich nicht wundern, dass das Schlechte hervorkommt. Wenn ich nicht gezielt darauf achte, brechen in mir auch alte Denkmuster durch. Ich muss mir zum Beispiel immer wieder bewusst machen, dass meine Perspektive nur eine unter vielen ist. Das passiert aber nicht von selbst, man muss das wollen. Die gute Nachricht ist: Es gibt das Gute, wenn wir uns dafür einsetzen. Ich glaube, dass noch ganz viel möglich ist.

Wie meinen Sie das?
Es gibt diese Annahmen, die oft als gesetzt gelten: Menschen haben Schubladen im Kopf, Menschen sind egoistisch, alle wollen immer mehr. Mehr Macht, Erfolg und Geld. Aber ist das wirklich so? Muss das immer so sein? Ich glaube, wir können uns noch in vielerlei Hinsicht weiterentwickeln, es muss nicht so brutal, lieblos und kalt sein. Das sind ja keine Naturgesetze. Und zumindest in der Langzeitperspektive sieht man doch die Fortschritte, das Gute kommt immer mehr hervor: Die Alphabetisierungsrate steigt, Frauen haben mittlerweile in vielen Ländern gleiche Rechte, wir haben mit Cem Özdemir den ersten türkeistämmigen Bundesminister.

Aber es gibt auch immer wieder Rückschläge. Am 24. Februar hat Russland die Ukraine überfallen. Wie schaffen Sie es, nicht zu resignieren?
Ich war zu der Zeit gerade im Urlaub, in Thailand. Bis zu dem Tag war es absolut paradiesisch: Sonne, Yoga, Kokosnüsse. Aber als die Nachricht kam, war für mich sofort klar, dass ich die Reise abbreche. Ich wusste ja, dass ich über mein Netzwerk und das Vielrespektzentrum in Essen die Flüchtenden unterstützen könnte. Bei mir setzt es Energie frei, wenn ich aufgebracht bin: Ich will mich von den Ereignissen berühren lassen und dazu in Beziehung setzen, ich will etwas tun. Das war bei allen größeren Projekten so, die ich gestartet habe. Ich will nicht zulassen, dass schlimme Ereignisse mich lähmen, ich will etwas daraus machen. Im Vielrespektzentrum haben wir ein wöchentliches Beratungsangebot für Ukrainer:innen hochgezogen.

Unsere Welt verändert sich so schnell, Normen verschieben sich, Macht soll anders verteilt werden – das kann man als Chance, aber auch als Bedrohung empfinden. 

Ali Can

Sie glauben an die Kraft von direktem Kontakt und Gesprächen, haben etwa 2016, als die Stimmung gegen die Geflüchteten kippte, eine „Hotline für besorgte Bürger“ eingerichtet und sind zu Pegida-Demos gefahren, um mit den Protestierenden zu reden.
Als die Berichte aus Clausnitz, Bautzen oder Freital durch die Medien gingen und das Stereotyp von „Dunkeldeutschland“ den Diskurs dominiert hat, bin ich dorthin gefahren, weil ich dieses pauschale Bild nicht einfach so übernehmen wollte. Ich wollte nach den Zwischentönen suchen und herausfinden, was Menschen offener macht. Seitdem ist mir klar, wie wichtig es ist, mit den Menschen über die Probleme, die sie sehen, zu sprechen. Wenn man einander persönlich begegnet, kann man auch positive Erfahrungen machen. Menschen sind viel zugänglicher und hinterfragen eher ihr Weltbild, wenn keine Kamera läuft.

„Asylbewerber Ihres Vertrauens“. Bei seinen Aktionen will Ali Can vor allem eins: ins Gespräch kommen.
„Asylbewerber Ihres Vertrauens“. Bei seinen Aktionen will Ali Can vor allem eins: ins Gespräch kommen.

© KAS-Büro Westfalen

Sie sind bei so einer Aktion allerdings auch mal getreten worden. Und dann abgehauen.
Da hatte ich einfach Angst, ich bin kein Superheld. Wenn man sich für Antirassimus einsetzt, wird man schnell zu einer Projektionsfläche für Hass und Frustration. Das ist ein undankbarer Job! Einige nehmen es so wahr, als wolle man ihnen etwas wegnehmen. Unsere Welt verändert sich so schnell, Normen verschieben sich, Macht soll anders verteilt werden – das kann man als Chance, aber auch als Bedrohung empfinden. Ich verstehe, dass es nicht ganz leicht ist, sich darauf einzulassen.

Wenn man die Leute dafür verurteilt, fühlen sie sich schnell angegriffen und machen zu. Man muss diejenigen, die überfordert sind, mitnehmen, sonst laufen sie den Rechten in die Arme. Ich habe meine Reise durch Ostdeutschland trotzdem fortgesetzt, weil ich nicht wollte, dass diese Erfahrung zum dominierenden Eindruck wurde. Danach haben sich noch viele Begegnungen ergeben, in denen eine konstruktive Auseinandersetzung möglich war.

Sprechen Sie eigentlich mit jedem?
Heute nicht mehr. Mit AfD-Funktionären zu reden, ergibt keinen Sinn. Die führen solche Gespräche nur, um sie am Ende zu instrumentalisieren. Ich habe mich schon mit Frauke Petry unterhalten und auch mit anderen AfD-Politikern. Aber denen Raum zu geben, bringt nichts, den politisch organisierten Rechtspopulismus muss man bekämpfen. Ich möchte mit denen ins Gespräch kommen, die nach rechts tendieren, aber noch erreichbar sind. Mit ihnen über die Probleme reden, die sie sehen. Es läuft ja nicht alles super. Gerade jetzt, da die Krisen sich türmen, müssen wir einen Dialog darüber in der Gesellschaft führen. Es müsste mehr Formate oder Strukturen geben, wo das möglich ist.

Antirassismus ist kein Sprint, sondern ein Marathon.

Ali Can

Verlieren Sie nie die Zuversicht?
Die Morde von Hanau waren eine Zäsur für mich. Ein Cousin von mir wohnt unweit der Shisha-Bar, wo der Täter mehrere Menschen erschossen hat, mein Cousin war eine Woche vorher selbst noch dort. Diese persönliche Betroffenheit hat mich umgehauen. Mit Hanau ging auch ein massiver Vertrauensverlust in die Sicherheitsbehörden dieses Landes einher. Es ist dem Staat offenbar nicht ausreichend wichtig, Menschen zu schützen, die von rechter Gewalt betroffen sind. Es wird einfach nicht ernst genug genommen, dabei ist es eine reale Gefahr. Es gibt weder die nötige Expertise noch entsprechende Strukturen. Die Aufklärung von Hanau läuft bis heute schleppend. Der Großteil der Verantwortung wird von den Betroffenen übernommen.

Auch Ali Can hat rechtsextreme Drohschreiben erhalten.
Auch Ali Can hat rechtsextreme Drohschreiben erhalten.

© dpa

Ich habe das auch selbst erlebt, als ich eine Morddrohung vom NSU 2.0 erhalten habe. Erst eine Woche, nachdem ich das angezeigt habe, kam eine Rückmeldung von den Sicherheitsbehörden. So ein Erlebnis ist einschneidend, das verändert die Lebensqualität radikal! Aber man wird überhaupt nicht aufgefangen, bekommt keine Rückendeckung. Also was die behördliche Seite angeht, bin ich ziemlich desillusioniert.

Der Tedx-Talk, den Sie 2019 in Berlin gehalten haben, hieß: „Rassismus mit Liebe begegnen“. Sollte man nicht eher klare Kante zeigen?
Das ist kein Freifahrtschein, um Rassismus zu tolerieren. Ich unterscheide klar zwischen privatem und öffentlichem Raum. Wenn ich in der Öffentlichkeit Zeuge von Rassismus werde, schreite ich ein, versuche, die Opfer zu beschützen und die Täter lautstark zurechtzuweisen. Ich finde wichtig, dass man unmittelbar Haltung zeigt und durchgreift. Da ist keine Zeit für ein klärendes Gespräch. So ein Verhalten soll sich nicht reproduzieren, und die Umstehenden sollen registrieren, dass das verurteilt wird.

Im Privaten kann ich aber anders reagieren. Ich weiß ja, dass Rassismus über Jahrhunderte gelernt worden ist. Das Unrecht ist so zementiert, dass es Zeit braucht, bis wir das sehen und wieder verlernen. Es ist schlimm und wir bekämpfen es, aber ich weiß: Antirassismus ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Man braucht einen langen Atem und Geduld auf dem Weg. Mit Liebe meine ich also einerseits Verständnis.

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Und andererseits?
Man muss auch seiner Vision Liebe schenken. So viele Probleme es auch gibt, wir brauchen eine Vorstellung davon, wo wir hinwollen. Für mich ist völlig klar, dass Rassismus überwunden werden wird. Man mag das für Traumtänzerei halten, aber das dachte man vor einiger Zeit auch über andere Entwicklungen, die heute bei uns selbstverständlich sind, das Wahlrecht für Frauen oder die Ehe für alle etwa. Vielleicht haben wir auch bald die erste Schwarze Bundespräsidentin. Wenn wir fest an das gute Morgen glauben, können wir uns fragen, was wir dafür brauchen und wie wir dahinkommen. Irgendwann werden wir die ganzen Debatten hinter uns lassen. Ich sehe viel Entspannung am Ende.

Für Ihr Engagement erhalten Sie das Bundesverdienstkreuz. Was bedeutet Ihnen das?
Am meisten freue ich mich, wenn ich mir vorstelle, wie mein Vater seinen Kunden in unserem Döner-Imbiss bei Gießen mit stolzer Brust davon erzählt. Meine Familie sollte abgeschoben werden, wir haben viele Jahre lang an der Armutsgrenze gelebt, meine Eltern haben es bis heute nicht leicht. Und jetzt werden sie im Schloss Bellevue vom Bundespräsidenten empfangen. Meine Mutter will Herrn Steinmeier einladen, zu uns in den Imbiss zu kommen und einen Döner zu probieren.

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