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Die älteste Eiche in Ivenack gilt als größte und mächtigste Europas. Sie ist das größte Lebewesen in Deutschland.

© picture alliance / dpa

Familienausflug nach Mecklenburg: In der Baumschule

In Mecklenburg stehen uralte Eichen, die schon die Jüngsten verzaubern – wenn Waldführer Jörg Hellwig vorangeht.

Am Straßenrand blühen Mohn, Korn- und Schlüsselblumen. Der Wind streicht über den Roggen, der silbrig in der Sonne glänzt, ein Reh steht auf dem Feld und schaut verwundert auf die lange Allee, in der manche Bäume groß genug sind, um Städter in Staunen zu versetzen.

Und das ist erst die Abfahrt von der A 19, der Weg über Teterow entlang der Mecklenburgischen Schweiz hin zu den Ivenacker Eichen.

Einer wie Jörg Hellwig würde da nicht mal hinschauen. 20 Kilometer vom Dorf Ivenack entfernt ist er aufgewachsen, seine Oma wohnte quasi in Sichtweite jenes Eichenwaldes, den der Bund Deutscher Forstleute jüngst zum Waldgebiet des Jahres ausgelobt hat. Und für den Experten gern Superlative auspacken. Die älteste Eiche soll 1000 Jahre alt sein und gilt als größte und mächtigste Europas, als größtes Lebewesen Deutschlands und größte Stieleiche der Welt.

Als Kind radelte Jörg Hellwig oft am Wald vorbei. Er kam auch mit seiner Schulklasse an Wandertagen hierher. Da sollten sich alle Kinder an der Hand nehmen und um die Eiche stellen, das schafften sie gerade eben, so dick ist der Stamm. Heute ist es Hellwig, der 3000 Kindern jährlich diese Wunder der Natur nahebringt. Der 59-Jährige ist Waldpädagoge und passionierter Wald-Entertainer.

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„Wo stand der erste Baum der Welt?“, will der Siebenjährige mit der blauen Brille gleich am Eingang zum Naturdenkmal wissen. „Da drüben auf dem Feld“, scherzt Hellwig. „Aber der ist schon vor langer Zeit umgefallen.“

„Ab wie vielen Bäumen ist ein Wald ein Wald?“, fragt der Neunjährige mit dem umgehängten Fernglas. „Das kann man so genau nicht sagen. Das hängt weniger von der Zahl der Bäume ab, als davon, ob ein Waldklima entsteht“, antwortet der Pädagoge. In der flachwelligen Landschaft nördlich der Mecklenburger Seenplatte jedenfalls ist über die Jahrhunderte ein ganz besonderes entstanden.

Der Lieblingsbaum der Deutschen hat Migrationshintergrund

„Die Eiche ist eigentlich eine Spanierin“, erklärt Hellwig auf dem Weg in den Park. Nach der Eiszeit kam sie langsam, langsam nach Nordeuropa, das damals dicht bewaldet war. Die Slawen, die vor 1000 Jahren auf dem Gebiet lebten, hielten ihr Vieh im Wald. „In der Hude“, sagt Hellwig in melodischem Platt. Weide gab‘s nicht. Erst ab dem 13. Jahrhundert wurden Teile des dichten Laubwaldes gerodet, oder wie Hellwig sagt, geroudet.

Die Zisterzienser, die hier damals ihr Kloster gründeten, trieben das Vieh im Winter in den Forst. „Die Tiere haben sich vom Wald ernährt. Die kannten kein Heu – was ist Heu?“ – „Ähm …“ überlegt der Siebenjährige. „Ich glaube … getrocknetes Gras.“ – „Das weiß nicht jeder“. Hellwig nickt anerkennend. Durch die Tierhaltung im Wald kam es zum ständigen Verbiss von Jungpflanzen, wie die Förster sagen. Hier gibt’s kaum Sträucher, kaum Büsche, wenige kleine Bäume. Knabbern alles die Tiere weg. Der Wald überaltert. „So haben die Eichen mehr Platz bekommen zum Wachsen. Und die Menschen haben sie geschont, weil sie ihre Tiere ernährten.“

„Wie süüüüüß“, ruft der Neunjährige und zeigt auf ein Rudel Damwild, das über den Weg trottet. „Sag jetzt bloß nicht Reh“, mahnt Hellwig. „Die sind kleiner und haben keinen Schwanz. Muss ich manchmal sogar den Jägern erklären.“ Er spricht schnell für einen Mecklenburger und viel für einen Forstwirt.

Auf dem Baumwipfelpfad kann man den Rieseneichen auf die Krone blicken.
Auf dem Baumwipfelpfad kann man den Rieseneichen auf die Krone blicken.

© TMV/Wächter

„Damwild war im 18. Jahrhundert wie der Porsche in der Garage: Musste man sich leisten können. Damit der Luxus nicht abhaut, kam ein Gatter um den Wald.“ Damals wurde aus dem Kloster ein Rittergut, und die Eichen zum eingehegten Tiergarten. Nun fraß das Wild die Blätter und Eicheln und setzte so die landschaftsgärtnerische Arbeit fort. Heute leben 140 Tiere auf 164 Hektar, einer Fläche so groß wie die Außenalster in Hamburg. Auch ein Schweinegehege mit einer alten Rasse gibt es. Nur sind da im Moment keine Tiere. „Die letzten verkaufen wir gerade in Gläsern am Eingang.“

Über einen geschwungenen Weg geht es weiter zu einer Lichtung. Auf der Wiese steht die älteste der Stieleichen. Ihren Stamm entdeckt man von Weitem, so breit ist er, wie hoch die Krone ist, bemerkt man erst spät. Sie ragt so weit in den Himmel, dass man den Baum vor lauter Wald erst mal gar nicht in seiner ganzen Größe sieht. Die unteren Äste stehen fast waagerecht vom Stamm weg, weiter oben verzweigen sie sich steil in die Höhe. Um sie herum ist ein Zaun gesetzt. Damit der Boden locker bleibt, und die Wurzeln, die sechs, sieben Meter in die Erde reichen, geschont werden.

Das Rätsel um das Alter der Eichen

Um die Ivenacker Eichen kreisen viele Märchen. Etwa die Geschichte vom Mädchen, das ins Kloster musste, weil sie sich gegen den Willen ihrer Eltern verlobt hatte. Aus Wut steckte sie ihren Ring über eine Eiche, die sie vor dem Kloster pflanzte. Der Baum wuchs und wuchs, der Ring schützte ihn. Deshalb wird die älteste auch Ringeiche genannt.

Wie alt die genau ist, darüber gibt es keine sicheren Angaben. Die Eichen sind nämlich hohl. Das Kernholz hat ein Pilz zerfressen. Kein Problem für den Baum, die Leitungsbahnen sind im Splintholz unter der Borke. Da wird das Wasser hoch- und runtergepumpt. Allerdings kann man deshalb die Jahresringe nicht zählen, nur schätzen. Vor 15 Jahren hat Hellwig zwei Wünschelrutengänger erwischt, die um die Eiche rumschlichen. „Ich hab den einen linksrum und den anderen rechtsrum geschickt – danach sollten sie mir das Ergebnis ins Ohr flüstern.“ Der eine kam auf 1216, der andere auf 1218 Jahre. Letztes Jahr wollte einer die Energiefelder messen, auf denen die Slawen ihre Götterbäume pflanzten. „Ich hab ihm gesagt, miss doch mal das Alter.“ Wup, wup, wup, die Wünschelrute drehte sich, und der Mann kam auf 1230 Jahre.

Neben den 1000-jährigen Eichen gibt es noch viel Natur zu sehen in der Mecklenburger Seenplatte.
Neben den 1000-jährigen Eichen gibt es noch viel Natur zu sehen in der Mecklenburger Seenplatte.

© TMV/Tieman

Was mag diese Eiche alles erlebt haben? Ein Zeitstrahl auf einer Tafel vermisst ihre Biografie: Bei der ersten urkundlichen Erwähnung Mecklenburgs 995 dürfte ihr Stamm einen Durchmesser von 30 Zentimetern gehabt haben. 250 Zentimeter waren es 1492, bei der „Entdeckung Amerikas“ – mit Edding hat jemand aufs Schild gekritzelt: „Geschichte = kolonialistische …“ Den Rest kann man nicht mehr lesen. Auf dem ältesten bekannten Foto, es erschien 1898 in der Zeitschrift „Gartenlaube“, sah die Silhouette des Baumes fast genauso aus wie heute, wo sie einen Durchmesser von 350 Zentimetern hat. Und nach wie vor wächst sie jedes Jahr ein bisschen weiter.

Wie geht’s dem Wald in Ivenack? Das kann man sehen, wenn man den 2017 eröffneten Baumwipfelpfad nach oben geht. „Ich war da anfangs gar nicht begeistert“, brummt Hellwig. So ein Riesengerüst zwischen die alten Bäume zu setzen! Als der 40 Meter hohe Pfad fertig war, hat Hellwig seine Meinung geändert. Der Weg schlängelt sich von den Stämmen über die ersten Äste und die Blüten empor bis zu den Wipfeln. An mehreren Stellen gibt es ein Quiz für Kinder. Sie lernen Vogelstimmen erkennen, merken, wie sehr die Bäume schwanken, sehen, wie schmal der Stamm im Gegensatz zur Krone ist, und wenn man oben angekommen ist, spürt man, dass der Wind ziemlich frisch pfeift.

Ein Baum wie ein Boxer

„Im Sommer ist ein Laubbaum wie ein Segel.“ Die Bäume hier sind auf Westwind ausgerichtet. Da haben sie Zugholz angelegt, das sie stützt. Wenn mal Ostwind kommt, reicht schon die Hälfte, um sie umzustoßen. Und die Winde werden unberechenbarer. Dazu kommt: Die Eiche hat eine Pfahlwurzel. „Andere Bäume versuchen, den Wind auszupendeln wie ein Boxer“, erklärt der Waldexperte. „Die Eiche sagt: Mich schaffst du nicht. Das wird ihr zum Verhängnis. Wenn es stark bläst, wird sie abgedreht.“

Oben auf dem Geländer sieht man, wie die Trockenheit der letzten Jahre den Bäumen zusetzt. Die Eichen haben ein bisschen gelitten. Die Buchen kämpfen mit Spitzendürre und Kleinblättrigkeit. Eine große Lärche ist unten grün, aber oben trocken.

Wieder am Boden, bleibt Hellwig vor einem riesigen Baumstumpf stehen. „Die Eiche hat sich 2000 auf die Seite gelegt.“ Das äußere Splintholz ist verrottet, der Holzmantel noch intakt. Darin steckt eine Menge Leben. In den Ivenacker Eichen krabbeln 856 Käferarten herum. Der Tag wird kommen, an dem der nächste Riese umkippt. „Die sind weit über ihr natürliches Alter. Normal werden Eichen so 500 Jahre. Wir sind froh um jeden Tag, den sie noch stehen.“

Vor ein paar Jahren hat ein Tornado im Wald gewütet. „20 Buchen sind schon umgekippt, da hat der Sturm noch mal richtig die Backen aufgeplustert – und ist im letzten Moment vor der ältesten Eiche abgebogen. Seit dem Tag glaub’ ich auch, dass der Ring den Baum zusammenhält.“

Nirgends gibt es so viele Gutshäuser wie in Mecklenburg. Und Gut Pohnstorf ist eins der schönsten.
Nirgends gibt es so viele Gutshäuser wie in Mecklenburg. Und Gut Pohnstorf ist eins der schönsten.

© Promo

HINKOMMEN

In zweieinhalb Stunden kommt man mit dem Auto von Berlin über die A19, Abfahrt Röbel, nach Ivenack. Mit dem Zug reist man bis Stavenhagen, hin und zurück 79 Euro. Von dort sind es fünf Kilometer bis Ivenack. Entweder einen Bus oder ein Taxi nehmen.

UNTERKOMMEN

Gut Pohnstorf ist ein Anwesen aus dem 19. Jahrhundert, das auf einem Hügel thront. Im Garten hat man Cinemascope-Aussicht auf den Sonnenuntergang. Die frisch sanierten Wohnungen sind liebevoll und individuell ausgestattet. Tolles Frühstück, perfekt für Familien, ab 90 Euro pro Nacht.

RUMKOMMEN

Im Nachbardorf Grammentin befindet sich das Café Komander (Dorfstr. 7-9), das für seinen Baumkuchen berühmt ist. Fünf Tonnen produziert der Familienbetrieb jährlich in seiner Bäckerei und verschickt sie nach ganz Deutschland.

Die Reise wurde unterstützt vom Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern.

Felix Denk

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