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Im Aristide ist jedes Zimmer anders gestaltet,

© Petrakis Alexandros

Unsere Hotelkolumne für die Ägäis: Eine Nacht im Aristide

Neun Zimmer, nordisches Design, südliche Sonne. In diesem Minipalast erfahren Urlauber vom Aufstieg und Fall der Insel Syros.

Oana Aristides Vorhaben ist grandios gescheitert. Eigentlich wollte sie vor vier Jahren nur ein kleines Ferienapartment auf der griechischen Kykladeninsel Syros kaufen, nun führt sie ein Boutiquehotel in einem neoklassizistischen Prachtbau. Vergangenes Jahr öffnete das Aristide seine Pforten, neun individuell umgebaute Zimmer warten auf Gäste, jeweils zwischen 25 und 40 Quadratmeter groß – und die 42-Jährige, die lange für eine Ratingagentur in der Londoner City gearbeitet hat, lebt seitdem das gesamte Jahr über auf der Insel.

Eine zuerst unfreiwillige, dann aber leidenschaftliche Hotelbesitzerin ist sie geworden. Sie hat den Umbau des Hauses geleitet, sich mit Klempnern und Zimmermännern gestritten – und ein „Bauarbeitergriechisch“ angeeignet, wie sie im schattigen Hof zugibt. Mächtige Ficusbäume beschützen die Gäste, die unter den Zweigen ihr Frühstück einnehmen, den frischen griechischen Joghurt oder das zarte Omelett mit Spargel. Wasser rauscht an einer Mauer herunter und wird in einem Becken aufgefangen, Efeu rankt sich um einen schneeweißen Kasten mit Kreuz: Das war die Familienkapelle der einstigen Besitzer.

Ein Opernhaus wie die Scala

Was ist schiefgelaufen? Am Anfang stand ein ganz normaler Urlaub, der Oana Aristide 2012 auf die Insel führte. Daraus wurde ein Ferienflirt. Sie verliebte sich in diesen Ort, der so anders war als die übrigen griechischen Inseln. Statt weiß verkalkten Häusern stehen in Ermoupoli, der größten Stadt auf Syros, prächtige Villen mit pastellfarbenem Anstrich, die Kirchen glänzen mit dunkelroten, ockergelben und königsblauen Farben. Syros knallt, Understatement heißt hier, auf schlichte Säulen und elegante Marmortreppen zu setzen. Das Opernhaus – das einzige der Kykladen – wurde nach der Mailänder Scala entworfen, das Rathaus – ein Einschüchterungskasten mit großzügigen Aufgängen – hat der deutsche Architekt Ernst Ziller errichtet.

Orte wie dieser reißen zu großen Träumen hin. Mit ihrer Schwester Jasmin und der Mutter kratzte Oana Aristide Geld zusammen, beauftragte einen Makler mit der Suche nach dem perfekten Apartment. Mit ihm lief das Trio die Straßen ab, nervte ihn ordentlich: „Was ist mit diesem Gebäude? Ist da was frei?“ Eines Tages stand die Gruppe vor dem Minipalast, der Makler winkte ab: „Nichts für Sie.“ Der Satz stachelte die Familie natürlich richtig an. Wieso? Bloß weil es acht Zimmer zu viel sind? Das wollen wir doch mal sehen.

Die drei Frauen betraten die frühere Residenz eines Schiffsmagnaten, staunten über die fünf Meter hohen Decken, die Holzdielen und Mosaikfußböden – und traten nun in jenes Stadium der Verliebtheit ein, in dem keine rationalen Entscheidungen mehr zählen. Sie wurden blind vor Verlangen: in diesem Fall nach dem Haus. Nahmen einen Kredit auf und unterschrieben 2018 den Kaufvertrag.

Von der Badestelle in Ermoupoli geht es ruckzuck in die Kirche.
Von der Badestelle in Ermoupoli geht es ruckzuck in die Kirche.

© Ulf Lippitz

Nur das Beste sollte es sein. Die Frauen kannten sich aus mit Gestaltung, sie stammten zwar aus Rumänien, waren jedoch in Schweden mit skandinavischem Design aufgewachsen. Freistehende Wannen, die wie filigrane Skulpturen aussehen, Leuchtröhren, die an Zirkustrapeze erinnern, Bettenburgen, aus denen man gar nicht mehr aufstehen möchte. Kostete natürlich extra. Oanas Schwester verlängerte ihren Ärztinnenvertrag am Polarkreis, der ihr einen Bonus und den Neu-Hoteliers ein Polster einbrachte. Da, wo wenig Tageslicht die Erde berührt, schafft sie die Mittel heran für hier, wo die Sonne im Überfluss strahlt.

Deshalb muss sich jeder – Gesetz der Insel – einmal am Tag abkühlen. Gegen Rammdösigkeit, für geistige Klarheit. Es ist nur ein kurzer Spaziergang vom Hotel zum Stadtstrand, fünf Minuten Gefälle und Treppen, die Sandalen latschen an ermatteten Katzen und stacheligen Agaven vorbei. Neben der Bar Ciel fläzen sich Menschen auf Handtücher, die auf nacktem Beton liegen, und lassen sich in die kühle Ägäis plumpsen. Das Wasser ist brutal klar, die Badenden sehen metertief hinunter: auf Fischschwärme und Fantasiefelsen. Oben thronen Altstadt und Kirchen. Sightseeing vom Wasser aus.

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Ermoupoli ist das Verwaltungszentrum der Kykladen und daher nicht vom Tourismus abhängig. Was der Stadt eine gewisse Eleganz verleiht. Sie biedert sich nicht Reisenden an wie die Party-Insel Mykonos, die ihren Bewohnern jeden Sommer viel Toleranz und wenig Schlaf abverlangt. Syros steht über den Dingen, lebt vom Glanz der Vergangenheit.

Denn die 85 Quadratkilometer große Insel war im 19. Jahrhundert eine Erfolgsstory im jungen Nationalstaat Griechenland. Erzählt Pavlos Chatzigrigoriou, der an der Universität in Ermoupoli über Neoklassizismus forscht. 1200 solcher Gebäude existieren in der 13 000 Einwohner zählenden Stadt, allesamt errichtet zwischen 1835 und 1920 – die goldene Ära, als Ermoupoli zu einem der wichtigsten Orte des Landes aufstieg und genauso schnell wieder in Vergessenheit geriet.

Gegründet wurde er 1820 von christlich-orthodoxen Flüchtenden, die vor den Türken ihr Heil auf Syros suchten, damals katholisch und mit einem Sonderstatus ausgestattet. Der Papst hielt seine schützende Hand über jene Getreuen, die noch heute oben in Ano Syros leben und im Schatten der Kathedrale auf die Emporkömmlinge von Ermoupoli hinabschauen.

Das Schöne unter der Sonne kann man von einer Terrasse im Aristide genießen.
Das Schöne unter der Sonne kann man von einer Terrasse im Aristide genießen.

© George Negrea

In Rekordzeit bauten diese sich eine blühende Handels- und Industriestadt auf, Werften wurden errichtet, es gab plötzlich ein vermögendes Bürgertum mit Sinn für Kultur. „Ermoupoli hat viele erste“, sagt Pavlos Chatzigrigoriou. Und meint damit: das erste griechische Krankenhaus, das erste griechische Gymnasium, den ersten Streik auf griechischem Boden und natürlich das erste neoklassizistische Gebäude des Landes. Davor steht er nun, linkerhand der bunten Nikolaikirche, 1836 gebaut, heute die Industriekammer der Kykladen, „komplett symmetrisch“, wie der Historiker begeistert bemerkt, drinnen italienische Fresken, draußen griechischer Marmor.

An der Straße hinunter zur Unterstadt bleibt er stehen, weist auf Fenster, Eingänge und Simse hin, stellt eine Zeitleiste auf: „einfache Balkone, verschönerte Balkone, verschlimmerte Balkone“. Am Ende haben sich die Architekten nur noch in Schnörkel geflüchtet, die reine Lehre vom Neoklassizismus verschwand. Und mit ihr die Bedeutung des Ortes. Als Ende des 19. Jahrhunderts Piräus zur wichtigsten Hafenstadt des Landes wurde, verlagerte sich der Handel dorthin. Syros blieben nur die Zeichen der vermögenden Vergangenheit.

Eine Galerie im Hotel

Auf die Gäste heute von der Dachterrasse des Aristide schauen und sich nach dem Sunset-Dinner wie zu Besuch bei reichen Verwandten fühlen. Alles so fein und ruhig hier. Im Frühjahr und Herbst wohnt ein „Artist in residence“ im Gebäude, in der ersten Etage gibt es eine kleine Galerie mit deren Kunstwerken, um den Geist anzuregen – und das Engagement von Oana Aristide zu unterstreichen. Sie hat schon verstanden: Syros ist diese eine Liebe, die nie zu Ende geht.

Reisetipps: Syros hat einen kleinen Flughafen, den die Airline Sky Express von Athen anfliegt, eine Strecke ab 67 Euro. Die meisten Reisenden erreichen die Insel jedoch per Fähre. Von Athen benötigt sie, je nach Kategorie, drei bis fünf Stunden, Tickets ab 18 Euro. Eine Nacht im Aristide kostet ab 240 Euro im Doppelzimmer, mehr unter hotelaristide.com. Die Recherche wurde unterstützt vom Aristide Hotel.

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