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Orthodoxe Juden versammeln sich in Israel an einem Lagerfeuer während eines jüdischen Festes.

© Oded Balilty/AP/dpa

Ein Deckmantel für Judenhass: Wann wird Israelkritik zum Antisemitismus?

Vom Umgang mit Kritik an der Israelkritik: Gefordert ist Fingerspitzengefühl, nicht der automatische Alarmruf. Ein Gastbeitrag.

Shimon Stein war von 2001 bis 2007 Israels Botschafter in Deutschland und ist zur Zeit Senior Fellow am Institute for National Securitiy Studies der Universität Tel Aviv. Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie setze sich mit der Frage auseinander, wann Israelkritik ein Deckmantel für Antisemitismus wird.

Kurz vor der Pogromnacht 1938 verkündeten das Innen- und das Justizministerium des „Dritten Reichs“ eine Verordnung, wonach männliche Juden ab 1.1. 1939 den Vornamen Israel als „weiteren Vornamen anzunehmen“ hätten, um sich auf diese Art als Juden zu erkennen zu geben.

Diese Verordnung verwendete somit den Namen Israel als Sammelbegriff für „Jude“, um die Diskriminierung und Verfolgung der Juden als „Fremdkörper“ in der „Volksgemeinschaft“ voranzutreiben. Das geschah ein Jahrzehnt, bevor der Judenstaat entstand und den Namen Israel annahm. Die antisemitische Verordnung von 1938 steht also nur indirekt mit dem heutigen Begriff „israelbezogener Antisemitismus“ im Zusammenhang.

Um die Frage beantworten zu können, wann Kritik am Staat Israel in Antisemitismus umschlägt, ist erstens eine klare Definition des Begriffs Antisemitismus notwendig und zweitens davon auszugehen, dass der sogenannte „israelbezogene Antisemitismus“ (oder Antizionismus) eine neue Komponente des Antisemitismus bzw. der Judenfeindschaft ist, die es erst seit der Gründung des Staates Israel gibt.

Judenfeindschaft (seit 1879 durch den Begriff Antisemitismus ersetzt) ist eine Attitüde, die aufgrund eines Vorurteils „die“ Juden oder „den Juden“ – als vermeintliche Rasse, Nation, Religionsgemeinschaft oder soziale Gruppe – pauschal negativ oder pejorativ bewertet und daraus auch soziale und politische Konsequenzen zieht.

Antisemitische Assoziationen

Den Antisemiten unter den „Israelkritikern“ erkennt man zuerst an den Assoziationen, die er heraufbeschwört: Sind Shylok, Judas, Auge-um-Auge-Mentalität, jüdische Weltherrschaft, Hinweise auf Ritualmord und ähnliches im Spiel, befindet man sich bereits im Bereich des Antisemitismus. Wenn nicht an israelische, sondern an pauschalisierende jüdische Charakteristiken gedacht wird, wenn nicht Israelis, sondern „der Jude“ Objekt der Kritik ist, ist man beim Antisemitismus angelangt.

Vor allem muss auf die Absicht des Kritikers geachtet werden. Hier wird es manchmal schwierig. Ob es sich um eine antisemitische Absicht eines „Israelkritikers“ handelt, kann man oft nur erfahren, wenn man die Denkweise des Kritikers kennt. Dort, wo der antisemitische Charakter von Aussagen oder Taten nicht eindeutig ist, ist Fingerspitzengefühl gefragt, nicht der automatische Alarmruf.

Früher, als es „nur“ den „klassischen“ Antisemitismus gab, bevor man die Bezeichnungen „sekundärer Antisemitismus“ (d.h. Shoah-Leugnung) oder „israelbezogener Antisemitismus“ erfand, war es einfacher, festzustellen, wer Antisemit ist. Klar: Ein Rechtsradikaler, der betende Juden in der Synagoge umbringen will, ist Antisemit. Heute ist es komplexer geworden. Wie soll der Befund eingeschätzt werden, der bereits im Bericht des Bundestags 2017 präsentiert wurde, wonach weniger als zehn Prozent der Deutschen als „klassische“ Antisemiten gelten, aber etwa viermal so viele als Vertreter eines „israelbezogenen Antisemitismus“? Ist die Definition „israelbezogener Antisemitismus“ nicht zu ungenau?

Nicht allein der Begriff „Israelkritik“ ist problematisch, auch ist nicht jede Kritik am Staat Israel gleich Antisemitismus oder antisemitisch angehaucht. Das gilt sogar beim Thema Existenzrecht Israels – denn das wird auch von einem Teil der ultraorthodoxen Juden bestritten. Wie gesagt, soll man auf die Absicht hinter der Kritik, auf die Adressaten der „Israelkritik“ und auf die Sprache der „Israelkritiker“ achten.

Shimon Stein war 2001-2007 Israels Botschafter in Deutschland und ist zur Zeit Senior Fellow am Institute for National Securitiy Studies der Universität Tel Aviv.
Shimon Stein war 2001-2007 Israels Botschafter in Deutschland und ist zur Zeit Senior Fellow am Institute for National Securitiy Studies der Universität Tel Aviv.

© Mike Wolff

Darüber hinaus ist entscheidend, ob die Kritik sich gegen Israel als Staat richtet oder gegen die israelische Politik, gegen bestimmte Züge der israelischen Politik. Letztere ist nicht an und für sich antisemitisch, jedenfalls wenn keine antisemitischen Assoziationen und Absichten mit der Kritik verbunden sind. Kurz: Um von Fall zu Fall darüber entscheiden zu können, wann Kritik am Staat Israel in Antisemitismus umschlägt, ist Differenzierung notwendig.

An Differenziertheit fehlt es nicht nur beim „Mann aus dem Volk“ oder beim un- oder übervorsichtigen Politiker, sondern gelegentlich auch bei Sozial- oder Geisteswissenschaftlern. Eine besondere Schwierigkeit bereiten Versuche, moderne Definitionen des Antisemitismus anzubieten, in denen der israelbezogene Antisemitismus eine prominente Rolle spielt: Der Versuch der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2016, eine „Arbeitsdefinition“ von Antisemitismus vorzuschlagen, in der die Israelbezogenheit eine wichtige Rolle spielt, dient leider auch der politischen Instrumentalisierung des Begriffs, statt mehr Klarheit bezüglich des Übergangs zum Antisemitismus zu schaffen.

 Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität Jerusalem.

© dpa/Martin Schutt

Dafür, dass der Umgang mit der Kritik an der Israelkritik manipulativ sein kann, weil politische Hintergedanken im Spiel sind, gibt es mehrere Beispiele. So steckt hinter der Bezeichnung der Israelkritik oder Israelfeindschaft unter Moslems als Antisemitismus oft die Absicht, die muslimische Präsenz in Europa zu bekämpfen. Oder es greifen israelische Politiker und ihre Anhänger prophylaktisch zum Vorwurf des Antisemitismus, um Kritik an der Siedlungspolitik im Keim zu ersticken.

Indem man den Boykott von Waren aus den besetzten palästinensischen Gebieten mit dem NS-Judenboykott vom 1. April 1933 assoziiert und somit den Vorwurf des Antisemitismus heraufbeschwört, delegitimiert man sogar die vom internationalen Recht geforderten Restriktionen gegen Israel. Hier geht es nicht mehr um die Frage, wann „Israelkritik“ in Antisemitismus umschlägt, sondern schlicht um die Instrumentalisierung der Angst vor Antisemitismus im Dienst des politischen Zynismus.

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