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Menschen mit Behinderung finden oft keinen passenden Job.

© Getty Images/Halfpoint Images

Echte Inklusion: „Behinderte Menschen können die Gesellschaft voranbringen“

Sie sind kreativ und gehen flexibel mit Problemen um, dennoch werden Menschen mit Behinderung diskriminiert und unterschätzt – nicht nur auf dem Arbeitsmarkt.

Von Luca Klander

Irgendwann die „Tagesschau“ zu moderieren, diesen Traum gibt Laura Mench nicht auf. Die 25-Jährige wollte schon immer beim Fernsehen arbeiten. Oder Radiosendungen machen – wie vor einer Weile beim Berliner Jugendsender Fritz. „Hinter dem Mikrofon hatte ich das Gefühl, frei in die Welt sprechen zu können“, erzählt sie.

Anfang 2020 lernte Laura Mench gerade die Arbeit einer Printredakteurin für Fernsehen und Radio kennen, als Corona plötzlich ihre Pläne durchkreuzte. Alle Praktika wurden von den Redaktionen abgesagt.

Teilweise hatte sie auch selbst große Sorgen. Aufgrund einer fortschreitenden Erkrankung des Nervensystems ist Laura Mench auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. „Es fehlte an Schutzmöglichkeiten. Ich werde zum Beispiel beatmet, ein Praktikum vor Ort wäre viel zu riskant gewesen.“

Obwohl sie ihren Traumjob als Moderatorin noch nicht ausüben kann: Angst, gehört oder gesehen zu werden, hat Laura Mench definitiv nicht. „Ich bin nicht die Person für eine klassische Leidensgeschichte“, stellt sie klar. Kritisch über die Dinge nachzudenken, sagt Mench, gehe schließlich auch, ohne sich ständig auf das Leid zu fokussieren.

Ich bin nicht die Person für eine klassische Leidensgeschichte.

Laura Mench, Aktivistin

Dabei machten die vergangenen drei Corona-Jahre äußerst deutlich, an welchen Stellen die Inklusion hierzulande immer noch an ihre Grenzen stößt. Dass Menschen mit Behinderung weiterhin mit den Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen haben, zeigt das aktuelle Inklusionsbarometer Arbeit, das die Aktion Mensch am Mittwoch vorstellte.

Die Arbeitslosenquote sinkt

Die gute Nachricht: Nach Jahren der Krise sinken die Arbeitslosenzahlen wieder. 2021 lag die Arbeitslosenquote unter behinderten Menschen bei 11,5 Prozent. Zum Vergleich: 2020 waren es 11,8 Prozent.

Gleichzeitig verschärfe sich jedoch die Langzeitarbeitslosigkeit. Mit einem Anteil von 47 Prozent im vergangenen Jahr sei nahezu die Hälfte (80.000) aller arbeitslosen Menschen mit Behinderung mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung, heißt es in der Erhebung. Dies bedeute ein Plus von über fünf Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr. Erholung und Fortschritt der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt scheiterten dabei insbesondere an der Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen.

Das bekam auch Laura Mench zu spüren. Eine Zeit lang schlug sie sich als freie Autorin durch, dann meldete sie sich arbeitssuchend. Doch ihre Hoffnung, einen passenden Job zu finden, wurde schnell enttäuscht: Die Vorschläge der Arbeitsagentur passten überhaupt nicht zu ihr. Mench hätte etwa Gabelstapler fahren sollen, dabei hat sie nicht einmal einen Autoführerschein. „Das habe ich bis heute nicht verstanden. Aber das Angebot war ernst gemeint“, berichtet sie.

Laura Mench kämpft als Aktivistin für mehr Inklusion.
Laura Mench kämpft als Aktivistin für mehr Inklusion.

© privat/Laura Mench

Behinderung, das zeigt dieses Beispiel, hat auch eine soziale Dimension. Eine Person ist nicht nur behindert, sondern wird auch gesellschaftlich behindert – durch Bordsteine, Klischees oder eben Berufsvorschläge, die individuelle Fähigkeiten nicht berücksichtigen.

Ableismus und seine Folgen

Für Ableismus, also die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, möchte Laura Mench nun als Aktivistin auf ihrem Blog „Projekt Leben“ sensibilisieren. Seit einem Jahr arbeitet sie auch beim Verein „Aktiv und selbstbestimmt e.V.“ und unterstützt dort Menschen mit Behinderung. Durch die Anfragen, die sie auf ihrem Blog bekomme, sei sie sowieso schon in die Beratungsarbeit hineingerutscht. „Ich bin aktivistisch viel in der außerklinischen Intensivpflege unterwegs“, sagt die junge Frau.

11,5
Prozent beträgt die Arbeitslosenquote unter behinderten Menschen. Damit ist sie doppelt so hoch wie die der Nichtbehinderten.

Denn auf Ableismus stoßen behinderte Menschen nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in vermeintlich geschützten Räumen wie Pflegeeinrichtungen. Als Laura Mench aus einem süddeutschen Internat nach Berlin zog, entschied sie sich bewusst dafür, in den eigenen vier Wänden zu wohnen. „Wenn ein Mensch mit Behinderung sich aber für ein Leben im Heim entscheidet, ist das sein Recht. Beide Wege sind okay. Auch das ist Selbstbestimmung“, sagt sie.

In der Berichterstattung über Gewalt in Behindertenheimen wird die Perspektive behinderter Menschen bis heute kaum aufgegriffen.

Raúl Aguayo-Krauthausen

Dass insbesondere das Leben in stationären Wohneinrichtungen ein Risikofaktor für Gewalt an behinderten Menschen sein kann, belegt das Projekt #AbleismusTötet. Die Dokumentation von bisher 41 Gewaltfällen in 37 deutschen vollstationären Wohneinrichtungen zeigt: Fehlende Selbstbestimmung bietet einen Nährboden für psychische, körperliche und sexualisierte Gewalt.

Projektleiter und Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen findet es unmöglich, „dass bis heute kaum die Perspektive behinderter Menschen in der Berichterstattung über Gewalt in Behindertenheimen aufgegriffen wird“. Ständig sei von Einzelfällen die Rede, dabei sei Gewalt in Heimen strukturell – und diese Struktur muss abgeschafft werden.

Gut bezahlte Jobs bleiben für viele behinderte Menschen nach wie vor unerreichbar.
Gut bezahlte Jobs bleiben für viele behinderte Menschen nach wie vor unerreichbar.

© Getty Images/sturti

Seit der Pandemie bekommen Inklusionsaktivisten wie Raùl Aguayo-Krauthausen und Lukas Krämer mit seiner Mindestlohn-Petition #StelltUnsEin! immerhin etwas mehr Aufmerksamkeit. Laura Mench macht diese Erfahrung auch. „Was sich vielleicht verändert hat, ist die mediale Präsenz“, sagt sie. Dabei waren sie alle auch schon früher in der Behindertenbewegung aktiv, haben Veranstaltungen moderiert und Blogbeiträge geschrieben. Dass dieses mediale Schlaglicht auf die Belange von Menschen mit Behinderung langfristige gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringt, daran glaubt die Aktivistin allerdings nicht wirklich.

Digitalisierung als Chance

Eine positive Entwicklung, die während der Pandemie einen Schub erfahren hat, ist hingegen die Digitalisierung der Arbeitswelt. Für behinderte Menschen birgt das große Chancen. Die Mentorin und Speakerin Karen Schallert sieht darin sogar einen Schlüssel zu mehr Teilhabe und Inklusion – ob mit Pandemie oder ohne. Aufgrund der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) ist sie selbst auf einen Rollstuhl angewiesen und berät mit HandicapUnlimited Akademiker:innen mit Behinderung.

Aus ihrer Sicht ist die gegenseitige Rücksichtnahme hinsichtlich Einschränkungen in letzter Zeit gewachsen. Und es gebe mehr Anerkennung für besondere Fähigkeiten: „Wer eine körperliche Beeinträchtigung hat, kann Dinge besser delegieren und so Schwächen kommunizieren“, sagt Schallert. So verändere Inklusion auch Unternehmenskulturen und das gesellschaftliche Miteinander. „Durch die vielen alltäglichen Herausforderungen haben behinderte Menschen einen flexibleren Umgang mit Problemen. Sie sind kreativ, wenn es darum geht, Lösungen zu finden, und können so die Gesellschaft als Ganzes voranbringen“, betont sie.

Auch Laura Mench ist froh, dass sie ihre Vorträge bequem von zu Hause halten kann. „Ich hoffe, dass es nachhaltig so bleibt“, sagt sie. Und vielleicht kann sie bald auch mal Podcasts aufnehmen oder gar ihre eigene Radiosendung aus dem Wohnzimmer starten.

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