zum Hauptinhalt
Olena Kravtchenko ging nach der russischen Invasion der Ukraine ins Vereinigte Königreich, wo sie als Linguistin für das britische Verteidigungsministerium arbeitet.

© privat | Bearbeitung: Tagesspiegel

Die Sprachdozentin, die für Soldaten dolmetscht: „Hier in England bin ich nützlicher als in der Ukraine“

Nach Russlands Überfall sitzt Olena Kravtchenko erstarrt in ihrer Wohnung und hört Raketen um sich einschlagen. Ein Jahr später ist ihr Vater tot – und sie findet eine neue Rolle.

Von Olena Kravtchenko

Vor einem Jahr weitete Russland seine Invasion der Ukraine auf das gesamte Land aus. Das Leben der Menschen dort hat sich seit Februar 2022 radikal verändert. Kaum jemand, der nicht von persönlichen Verlusten erzählen kann, vom Sterben und Fliehen, vom Kämpfen und Überleben. Kurz nach Beginn des Überfalls bat der Tagesspiegel Ukrainerinnen und Ukrainer, für das Multimedia-Projekt „Ein Tag im Krieg“ in Echtzeit aus ihrem neuen Alltag zu berichten. Ein Jahr später haben wir sie wieder erreicht. Olena Kravtchenko, 41, war zum Zeitpunkt des Überfalls Dozentin und Übersetzerin im ostukrainischen Charkiw. Hier ist ihr Bericht.


„Ich wollte kein Opfer sein, zum Nichtstun verdammt“

Kurz nach der russischen Invasion gab einer meiner Auftraggeber mir einen sehr wichtigen Rat. „Akzeptiere diese neue Realität als deine“, sagte er. „Und beginne, in ihr aktiv zu werden.“

In den ersten Tagen war ich wie erstarrt. Ich konnte nicht glauben, dass das alles wirklich passierte. Ich saß mit meiner Familie in unserer Wohnung in Charkiw und hörte die Raketen um uns herum einschlagen. Meine Katze starb, weil es keine Medikamente für sie gab. Es war surreal.

Kurz darauf begann ich mich zu bewegen. Weil ich, so glaube ich heute, nicht mehr die Rolle spielen wollte, die dieser Krieg für mich vorgesehen hatte. Ich wollte kein Opfer sein, zum Nichtstun verdammt. Ich wollte eine positive Geschichte schreiben, als Widerstand sozusagen.

Doch zunächst mussten wir unsere Heimatstadt verlassen, unter üblen Bedingungen in einem kleinen Dorf ausharren. Mein Vater hatte einen schlimmen Zusammenbruch und ist dann gestorben. Er hat nicht ausgehalten, was passiert ist.

Zu dieser Zeit wurde meinem Antrag auf ein Visum für das Vereinigte Königreich stattgegeben. Es war eine schwere Entscheidung, aber am Ende ging ich. Ich wollte es schaffen. Mit 500 Euro auf dem Konto, ohne Plan, ohne jemanden zu kennen, ohne echte Perspektive. Ich war in Panik.

Trotzdem schrieb ich mir eine Liste von Punkten, die mein neues Leben erfüllen sollte. Ich wollte nicht den ganzen Tag in einem Büro sitzen. Ich wollte etwas dazulernen, auch sprachlich. Ich wollte reisen, wollte genug Geld verdienen, um ein gutes Auskommen zu haben. Und ich wollte unbedingt der Ukraine helfen.

Einige Monate später sitze ich nun hier und kann sagen, dass ich genau das geschafft habe. Ich arbeite in England für das britische Verteidigungsministerium als Übersetzerin. Mein Job ist es, bei der Ausbildung ukrainischer Soldaten zu übersetzen. Draußen auf dem Feld, bei Schulungen und unterwegs.

Ich bin nicht im Büro, ich lerne jeden Tag dazu, verdiene gutes Geld, brauche keine Hilfe, bin unterwegs. Und ich helfe meinem Land jeden Tag dabei, den russischen Invasoren kräftig in den Arsch zu treten.

Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass ich hier in England nützlicher bin als in der Ukraine.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false