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Lichtgestalt. Als Irom Sharmila aus einem Gefängniskrankenhaus in Manipur entlassen wird, begrüßen ihre Unterstützer sie ehrfürchtig.

© AFP

Menschenrechtsaktivistin: Die Auferstandene von Indien

16 Jahre lang verharrte Irom Sharmila im Hungerstreik. Aus Protest gegen das indische Militär. Dann ging sie in die Politik – und verlor. Jetzt lebt sie ein neues Leben. Doch die Frage bleibt: War ihr Kampf vergeblich?

Als es endlich so weit ist, bricht die Schwere der Entscheidung über Irom Sharmila herein. Die Ärztin hat einen Klecks Honig in ihre Handfläche gelöffelt, und die Frau mit den strähnigen Locken schaut lange darauf, als würde sie darin nach einer Antwort suchen. Auf ihren Wangen glitzern Tränen. Jemand redet ihr gut zu: „Tu es, tu es.“ Kurz blickt Sharmila hilfesuchend in den Himmel. Dann hebt sie ihre linke Hand und leckt Honig vom Zeigefinger. Sharmila verzieht das Gesicht, kann kaum schlucken.

Es ist der 9. August 2016. Zerbrechlich wirkt die Frau in den Videos, die um die Welt gingen. Hinter ihr eine Wand aus Ärzten und Polizisten, vor ihr ein Tisch voller Mikrofone. Hunderte Journalisten sind gekommen, um diesen Moment zu dokumentieren: das Ende des längsten Hungerstreiks der Welt. Sechzehn Jahre lang berührte kein Nahrungsmittel, nicht mal ein Tropfen Wasser Irom Sharmilas Gaumen. Auf diese Weise wollte sie friedvoll gegen ein Notstandsgesetz im Nordosten Indiens protestieren, das der Armee volle Kontrolle und Immunität einräumt. Einer Armee, die schon viele Unschuldige getötet hat.

Sie wollte Gerechtigkeit erzwingen, indem sie sich selbst opferte. Menschen druckten ihr Konterfei auf T-Shirts und Plakate, 2005 galt sie als Kandidatin für den Friedensnobelpreis. Manche nannten sie Göttin, andere „die eiserne Lady von Manipur“. Aber die wollte sie nicht länger sein. Stattdessen als Politikerin das System von oben verändern. Im Frühjahr 2017 kandidierte Sharmila für die Regionalwahlen in Manipur. Doch kaum jemand wählte sie. War ihr 16-jähriger Kampf umsonst?

"Am Anfang war jeder Schluck Wasser eine Qual"

Sharmila summt und verschwindet barfuß in der Küche. Sie hat sich ein Buch mit südindischen Rezepten aus der Bücherei geliehen. „Am Anfang war jeder Schluck Wasser eine Qual“, sagt sie. Aber ihr Körper gewöhnte sich schnell. Reis, Linsen, Gemüse, alles schmeckte viel salziger und schärfer als in ihrer Erinnerung. Jetzt kocht sie gerne, schält Süßkartoffeln, schneidet Zwiebeln und wirft alles mit Kokosmilch in die Pfanne. Sie sei eine einfache Frau, sagt die 46-Jährige. Zum Gespräch setzt sie sich einfach auf den Teppichboden. Ihre türkise Bluse passt farblich zum Baumwolltuch, das sie sich um die Hüfte gewickelt hat. Die Wangen leicht rosa, das lockige Haar voll und weich, nichts erinnert an ihren Ausnahmezustand der letzten Jahre.

Auf einer Anhöhe zum Essbereich reihen sich Preise und Widmungen aneinander. Die eiserne Lady wurde zum Symbol eines Freiheitskampfes, aber sie hat die Kontrolle darüber verloren. Sie wohnt jetzt mit ihrem Ehemann Desmond Coutinho am anderen Ende des Landes, in Kodaikanal, einem Bergdorf im Süden. Auch hier kennen die Menschen sie. Doch Sharmila verneint, wenn sie nach Selfies fragen. Sie will diesen Hype um ihre Person nicht länger. „Für viele war ich nur ein Instrument, sie haben vergessen, dass ich auch ein Mensch bin. Sie wollten meine wahre Persönlichkeit nicht akzeptieren.“

Wie fühlt sich das an? Wo verlaufen die Grenzen zwischen Scheitern und Befreiung? Und was erzählt ihre Geschichte über die Macht von Aktivismus?

Ihre Muttersprache ist das nordostindische Meitei, ihre englischen Sätze stocken manchmal, als müsste sie einzelne Wörter erst mühsam zusammensetzen. Verunsichert wirkt sie deswegen nicht, ihr Blick ist entschlossen. Draußen rollt Donner über die Dächer. Sie sagt: „Ich habe jetzt mein eigenes Leben.“

An einer Bushaltestelle starben zehn Menschen

Ihr erstes endete am 2. November 2000, als Soldaten zehn Menschen an einer Bushaltestelle im kleinen Ort Malom erschossen. Es hieß, Separatisten hätten kurz zuvor eine Bombe am Wagen der Militärs hochgehen lassen. Doch die Kugeln der Soldaten trafen nur Unschuldige.

Sharmila kommt aus der indischen Staat Manipur, an der Grenze zu Myanmar. Seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 kämpfen in der Region Rebellen gegen die Zentralregierung in Delhi und gegeneinander. Sie fordern Autonomie, eine Abspaltung, manche wollen ihr altes Königreich Nagaland zurück. Die indische Armee sollte die Region befrieden. Durch das Notstandsgesetz – den Armed Forces Special Power Act (Afspa) – hat sie zusätzliche Rechte. Soldaten dürfen ohne Begründung Häuser durchsuchen und Menschen festnehmen, in manchen Teilen der Region gilt das seit 60 Jahren. Menschrechtsaktivisten werfen der Armee vor, Frauen vergewaltigt und mehr als 1500 Menschen grundlos ermordet zu haben.

Die damals 28 Jahre alte Sharmila arbeitete für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Alert und hatte Monate damit verbracht, mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen durch die Armee zu sprechen. Das „Malom Massaker“ bestürzte sie wie kein anderes. Sie fasste einen Entschluss. Zu ihrer Mutter sagte sie: „Ich werde etwas für unser Land tun.“ Am nächsten Tag setzte sie sich in den Garten ihres Kollegen, der nur 200 Meter vom Ort des Geschehens, der Bushaltestelle in Malom, entfernt wohnte. Auf einem kleinen Schild stand: „Hungerstreik.“ Ihr Chef Babloo Loitongbam rief Zeitungen an, Journalisten kamen. Aber niemand glaubte daran, dass die junge Frau lange durchhalten würde. Proteste gab es zu dieser Zeit in Manipur zuhauf.

Gandhi trat 14 Mal in Hungerstreik

Die Verweigerung von Essen kann ein machtvolles Mittel sein. Der Streikende legt sein Leben in die Hand des Gegners und appelliert damit an dessen Menschlichkeit. „Wenn der Körper schwächer wird, kann merkwürdigerweise auch die Obrigkeit schwächer werden“, schreibt die amerikanische Wissenschaftsautorin Sharman Apt Russell in ihrem Buch „Hunger. An Unnatural History“. Sharmilas Vorbild war Mahatma Gandhi, der den friedlichen Protest wie kein anderer prägte. Er fastete mindestens 14 Mal aus politischen Gründen. Das erste Mal dauerte es zwei Tage, bis seine Forderung an die britischen Kolonialherren erfüllt wurde. Beim letzten Mal reagierten die Machthaber erst, als seine Nieren zu versagen begannen.

Sharmilas Protest duldete die Regierung drei Tage, dann wurde sie festgenommen. Der Vorwurf: versuchter Selbstmord – bis 2017 in Indien strafbar. Sharmila wurde durch eine Nasensonde zwangsernährt, der Schlauch zum Symbol ihrer Bürde. Ihr Protest wurde verbannt, in einen banalen Rechtsstreit und in den Raum 4A des Jawaharlal Nehru Instituts für medizinische Forschung (JNIMS) in Imphal, Manipur.

Ihren Körper kontrollierte sie mithilfe von Yoga. „Ich spüre keinen Durst mehr“, sagte Sharmila nach einigen Jahren. „Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt.“ Sie schrieb Gedichte und las, goss ihre Pflanzen. In manchen Nächten, erzählt sie, lief sie stundenlang die Korridore vor ihrem Zimmer auf und ab. Besuch wurde streng reglementiert, sie war immer noch eine Strafgefangene.

Alle paar Wochen musste sie vor Gericht erscheinen, wo der Richter sie fragte, ob sie ihr Leben noch immer beenden wolle. Sharmila wiederholte dieselben Sätze, immer wieder: „Dies ist ein friedlicher Protest. Ich liebe das Leben.“ Ihr Kampf wurde zu einem Spiel, einer absurden Normalität. In ihrem Buch „Oh mother, where is my country“ schreibt die indische Journalistin Anubha Bhonsle: „Nirgends und vielleicht an keinem Punkt der Geschichte wurde ein Opfer und ein Protest dieser Größe so einfach neutralisiert.“

Entflammt. Studenten protestieren im April 2006 in der indischen Hauptstadt Neu Delhi gegen Menschenrechtsverletzungen im Bundesstaat Manipur.

© Adnan Abidi/Reuters

Über die Jahre zweifelte Sharmila immer wieder. Ihr ehemaliger Chef, der Menschenrechtsanwalt Babloo Loitongbam, und ihr Bruder Irom Shinghajit waren ihre engsten Weggefährten und ihre Verbindung zu den Menschen draußen, zu Journalisten und Aktivisten. Mit der Zeit aber fühlte sich Sharmila fremdbestimmt. Ohne ihre Zustimmung, doch in ihrem Namen, gründeten Mitstreiter eine Stiftung mit Preis- und Spendengeldern. Nach dem Wirbelsturm in Bangladesch 2007 wollte sie etwas spenden, die anderen redeten es ihr aus – das Geld sei für ihren Kampf gegen Afspa. Ein schriftliches Interview für ein Buch sollen ihre Unterstützer umgeschrieben haben. „Ich habe die Kontrolle verloren“, sagt Sharmila heute. „Ich glaube, ich hatte keine Freunde, die mich wirklich verstanden haben.“

Irom Sharmila gab 16 Jahre ihres Lebens für den Protest, aber nicht ihre Persönlichkeit. Nur wollte die wohl niemand mehr sehen. Als sie im Juli 2016 das Ende ihres Streiks verkündete, waren nicht alle einverstanden. „Sie wollten, dass ich weitermache. Aber was taten sie selbst? Sie wälzten die gesamte Verantwortung auf mich ab“, sagt sie. „Wie kann eine einzelne Person die Gesellschaft verändern?“ Ihr Lachen klingt zynisch.

"Was haben sie getan? Haben sie sich wirklich dem Kampf verschrieben?"

Sie sagt das immer wieder: „Was haben sie getan? Haben sie sich wirklich dem Kampf verschrieben?“ Sharmila begriff sich selbst als fleischgewordene Revolution. Aber eine Revolution braucht mehr als einen Revolutionär. Und die Journalistin Anubha Bhonsle sagt: „Afspa ist nicht die Hauptsorge der Menschen.“ Seit der Unabhängigkeit hat der Nordosten Indiens mehr als 160 Rebellengruppen gesehen, Dutzende sind noch aktiv. Die meisten Menschen aber wollen Frieden, Jobs, befahrbare Straßen, Schulen und ihre Kinder ernähren können.

Für ihre erste Nacht in Freiheit hatte der ehemalige Gesundheitsminister von Manipur Sharmila Obdach in seinem Haus geboten. Doch eine Menschentraube versperrte dem Wagen den Weg zur Einfahrt. Ihr Gastgeber schob sich durch die Menge, bis er Sharmilas Fenster erreichte. „Es tut mir leid, die Menschen wollen erst mal nicht, dass du hier bleibst. Vergib mir.“ Ihre Anhänger fühlten sich von ihr im Stich gelassen. Und Sharmila wollte das erste Mal in ihrem Leben sterben. „Ich wollte mein Blut die Straße fluten sehen. Die Menschen sollten sich damit von ihren negativen Gedanken reinwaschen.“ Ausgerechnet an dem Tag, an dem Sharmila das erste Mal wieder etwas zu sich nahm, erzählt sie, verlor das Leben jeden Geschmack.

War ihr Kampf vergeblich? Der schmalen Frau mit dem stolzen Blick ist es wichtig, eine Sache klarzustellen. „Durch meinen Protest wurde Afspa weltweit bekannt. Und die Armee musste reagieren, um ihr Image zu bessern. Heute ist die Lage viel besser.“ Nach einem Protest in Neu Delhi appellierte sogar das Europäische Parlament an die indische Regierung, das Notstandsgesetz aufzuheben. Sie sei nicht gescheitert, sagt Sharmila. Wie ließe sich der Gedanke auch ertragen – nach 16 Jahren?

Sharmila war immer Teil des Kampfes, in den Köpfen der Menschen

Die großen Massen bewegten andere. 2004 vergewaltigten und ermordeten Soldaten ein junges Mädchen in Manipur. Das trieb die Imas – Mütter – auf die Straße. Völlig nackt hielten zwölf von ihnen im Zentrum von Imphal ein Banner hoch: „Indische Armee, vergewaltigt uns.“ Der Protest war kraftvoll, kühn, entwaffnend. Immer mehr Menschen schlossen sich an. Drei Monate später zog die indische Regierung ihre Truppen aus sieben Bezirken in Manipur ab. Sharmila war immer Teil des Kampfes, in den Köpfen der Menschen, auf Plakaten, in jedem Bericht über Afspa. Lieder und Bücher wurden über sie geschrieben, Dokumentationen gedreht. Aber sie war keine Waffe. Sie war vor allem Symbol.

Sie steht jetzt am Fenster, ihre Finger greifen in die gewundenen Gitterstäbe vor dem Glas. Lange Pausen liegen zwischen ihren Worten. „Vielleicht liegt es an meiner fehlenden Intelligenz. Gandhi, Nelson Mandela, beide waren Juristen. Sie konnten ihr Wissen für ihren Kampf nutzen. Ich weiß nicht viel, ich wollte mit einfachen Methoden kämpfen.“

Sharmila ist das jüngste von neun Geschwistern. Sie schaffte es nur bis zur zehnten Klasse, das Lernen fiel ihr schwer. Bevor sie bei der Menschenrechtsorganisation begann, versuchte sie sich im Journalismus. Als sie im August 2016 verkündete, für die Regionalwahlen zu kandidieren, schob sie hinterher: „Ich habe keine Ahnung von Politik. Ich bin nicht sehr gebildet.“ Aber sie glaubt an das Gute im Menschen, an Gerechtigkeit. Daran, dass die Gesellschaft sich verändern kann. Wenn sie laut über die Welt nachdenkt, spricht eine kindliche Unschuld aus ihr. „Wäre ich Präsidentin, würde ich alle Menschen durch die Augen von Kindern betrachten – unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft.“ Mit Detailfragen will sie sich nicht beschäftigen, sie bleibt allgemein.

"Du kommst du spät. Meine Stimme ist schon verkauft"

Es fällt leicht, sie dafür anzuzweifeln. Doch sie schenkte vielen Menschen Hoffnung und Kraft. Nur: Für den politischen Wandel reichte das nicht. Während die großen Parteien im Wahlkampf mit Wagenkolonnen die Straßen blockierten und 500 Rupien-Scheine verteilten, radelte sie auf ihrem Fahrrad von Ort zu Ort zu ihren potenziellen Wählern. Eine Frau, erzählt sie, fing vor ihr an zu weinen. „Du kommst du spät. Meine Stimme ist schon verkauft.“ Der Gewinner der Regionalwahlen Ibobi Singh bekam 10 740 Stimmen, Sharmila 90.

Gerne würde sie etwas von ihrer Willenskraft abgeben an die Jugend des Landes. Sie will an Schulen und Universitäten sprechen. „Die jungen Menschen studieren jahrelang und am Ende wählen sie einfach, was ihre Eltern ihnen sagen.“ Sharmila will sie wachrütteln. Als ihre Hauptaufgabe begreift sie das aber nicht mehr. Die Frau, deren Identität 16 Jahre lang über ein einziges Ziel definiert war, will sich von jeder Zuschreibung lösen.

Sie ist jetzt nicht mehr nur Aktivistin, sondern vor allem Mensch – und Ehefrau. Mitten in ihrer Isolation fand sie die Liebe und heiratete Desmond Coutinho. Jahrelang schrieb er ihr Briefe. Ein Inder mit irischem Pass, viel ist über ihn nicht bekannt. Er kam zu Gerichtsterminen, schickte ihr Bücher. Vielleicht trieb sie die Liebe zurück ins Leben, sie sagt es nicht. Stattdessen: „Ich beneide die Vögel im Himmel. Sie können überall hinfliegen, über Grenzen hinweg, ohne dass jemand ihnen sagt: das hier ist dein Ort, deine Kultur, deine Religion. Ich will so frei sein wie die Vögel.“

Julia Wadhawan

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