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Karl Kardinal Lehmann.

© Harald Oppitz/KNA

Zum Tod von Karl Kardinal Lehmann: Der Weltzugewandte

Unermüdlich predigte und verhandelte Karl Kardinal Lehmann für eine moderne katholische Kirche. Nun ist der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz gestorben.

Ein großer Mensch und Christ, ein herausragender Bischof und Theologe ist von uns gegangen. Dankbarkeit und Trauer prägen die Reaktionen über die Grenzen der Konfessionen und Religionen hinweg. Die Wertschätzung reicht weit über den Bereich der Glaubenden hinaus. Karl Lehmann hat nicht nur in die Kirche hinein gewirkt, sondern Gesellschaft, Wirtschaft und Politik über Jahrzehnte hinweg beeinflusst.

Wenn man verstehen möchte, was ein „öffentlicher Theologe“ ist, muss man an ihn denken, der auf Kongressen von Wirtschaftslenkern und Ärzten genauso zu Hause war wie in den Gemeinden seines Bistums Mainz, der das Vertrauen von Politikern über alle Parteigrenzen fand, aber im Fußball genauso mitreden konnte wie in der Politik. Wer ihm schicksalhafte Erfahrungen anvertraute, konnte sicher sein, dass er sie für sich behielt, also nie wieder vergaß. Immer wieder konnte er nach dem fragen, was dem anderen auf der Seele lag.

Als Sohn eines Volksschullehrers und einer Buchhändlerin war er in dem südwürttembergischen Städtchen Veringenstadt bei Sigmaringen aufgewachsen und verlor die Nähe zu den Menschen nie, die sich mit dem Aufwachsen in überschaubaren Bedingungen verbinden kann. Seine ungewöhnliche Begabung widmete er seiner Kirche und der Theologie. Das führte ihn über die Welt seiner Jugend schon bald weit hinaus, räumlich wie geistig. Nach Freiburg war Rom seine zweite Studienstadt.

Geistig wurde er bald in der Welt großer Philosophen und Theologen heimisch. Mit dem Philosophen Martin Heidegger befasste er sich in seiner Doktorarbeit; im Alter von 26 Jahren wurde er Mitarbeiter des Jesuiten Karl Rahner, der beim II. Vatikanischen Konzil eine ebenso profilierte wie prägende Beraterrolle spielte. Auf diese Weise arbeitete auch Karl Lehmann unmittelbar am II. Vatikanischen Konzil mit. Das prägte seinen theologischen Weg. Die Öffnung zur Welt, die der Konzilspapst Johannes XXIII. zur Aufgabe dieser repräsentativen Kirchenversammlung gemacht hatte, sah auch Karl Lehmann als seine Lebensaufgabe an. Das war alles andere als eine Abwendung von Glauben und Kirche, im Gegenteil. „Mit der Kirche leben“ hieß eines seiner programmatischen Bücher, verfasst übrigens gemeinsam mit Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Der verbreiteten Meinung, eine weltzugewandte Weise des Christseins führe notwendigerweise zur Kirchendistanz, hielt er die klare Überzeugung entgegen: „Jesus hat die Kirche gewollt.“

Karl Lehmann machte schnell Karriere; von 1968 bis 1983 wirkte er als Theologieprofessor in Mainz und Freiburg. Doch unbeugsam stand er zu seinen Überzeugungen, kamen sie gelegen oder ungelegen.

Unvergessliche Zeichen

Als dem Tübinger Theologen Hans Küng 1979 wegen seiner Kritik am Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen wurde, nannte Lehmann das „einen rabenschwarzen Tag für die Theologie“; dass eine Beschädigung der Theologie auch der Kirche Schaden zufügte, war für ihn klar. Trotz oder vielleicht auch wegen seiner unbeugsamen Haltung wählte das Domkapitel von Mainz ihn 1983 zum Bischof. Das blieb er für 33 Jahre. Selten hat ein Mensch dieses Amt so lange und in so unverwechselbarer Weise ausgeführt: bodenständig und reformbereit. Er pflegte Traditionen und förderte Neues, wo immer es überzeugte und sich verwirklichen ließ. Von 1987 bis 2008 war er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und damit nicht nur Moderator nach innen, sondern auch Repräsentant der katholischen Kirche nach außen.

Ein Menschenalter hat er seine Kirche geprägt, aber nie nur an die eigene Kirche gedacht. Gesellschaftliche Herausforderungen nahm er wach wahr und sah immer die theologischen Fragen, die sich mit ihnen verbanden. Bis in die Nacht konnte man mit ihm über neue Entwicklungen in der Medizin und anderen Lebenswissenschaften diskutieren; er wollte erst verstehen, was sich da vollzog, bevor er ein theologisches Urteil oder eine ethische Einschätzung von sich gab. Dass die dogmatische Stellungnahme auf der Verarbeitung von Informationen und Argumenten beruhen musste, war für ihn genauso wichtig wie die Rücksichtnahme auf die Lebenssituation der Menschen.

Dafür setzte er Zeichen, die unvergesslich sind. Er war davon überzeugt, dass der richtige Weg in Schwangerschaftskonflikten mit den betroffenen Frauen und nicht gegen sie gefunden werden musste. Deshalb setzte er sich für die Beteiligung der katholischen Kirche an der Schwangerschaftskonfliktberatung ein. Dass dies nach einer intrigenreichen Vorgeschichte durch Papst Johannes Paul II. verboten wurde, gehörte zu den bittersten Erfahrungen seiner Amtszeit. Doch er resignierte nicht, sondern gründete in seinem Bistum das „Netzwerk Leben“, das auf neuen Wegen Schwangeren dabei helfen sollte, ihre Schwangerschaft zu bejahen. Früh wollte er eine veränderte seelsorgerliche Haltung der katholischen Kirche gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen erreichen; dass Papst Franziskus den Weg dazu öffnete, war für ihn eine späte Genugtuung. Dass der christliche Glaube in konfessionsverbindenden Familien nicht geschwächt, sondern gestärkt wurde, hielt er für eine selbstverständliche Aufgabe der beteiligten Kirchen. Als die katholischen Bischöfe in Deutschland, einer Anregung von Papst Franziskus folgend, die gemeinsame Teilnahme konfessionsverschiedener Eheleute an der katholischen Eucharistiefeier erlaubten, erlebte er dies als einen späten, aber wichtigen Schritt in die von ihm lange erhoffte Richtung.

Ich bin Karl Lehmann 1985 zum ersten Mal begegnet. Als Präsident des Evangelischen Kirchentags in Düsseldorf hatte ich die drei katholischen Bischöfe Karl Lehmann, Walter Kasper und Klaus Hemmerle zu Bibelarbeiten eingeladen. Als ich Karl Lehmann in Düsseldorf persönlich begrüßte, bedankte er sich für die Möglichkeit, durch die Auslegung der biblischen Botschaft einen Beitrag zu wechselseitigem Verstehen zwischen den Konfessionen zu leisten. Denn das war für ihn ein Lebensthema.

Barmherzigkeit mit den Zweiflern

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat er wie kein anderer die Gespräche zwischen deutschen katholischen und evangelischen Theologen geprägt. Die Einsicht, dass die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts nicht mehr die ökumenischen Partner im 20. oder 21. Jahrhundert treffen, bildete den Ausgangspunkt für neue Gemeinsamkeiten im Verständnis des christlichen Glaubens. Sein Bild von der Ökumene war aber nicht durch die Vorstellung geprägt, dass die Traditionen und Konturen der beteiligten Kirchen abgeschliffen werden sollten. Ökumene war für ihn kein Einerlei.

Über eine Reihe von Jahren haben Karl Lehmann und ich bei Katholikentagen und evangelischen Kirchentagen Gespräche über den Stand der Ökumene geführt. Bei solchen Dialogen konnte er in aller Öffentlichkeit sagen, wie froh er darüber sei, dass seine Kirche kein definitives Ziel der ökumenischen Entwicklung formuliert habe. Dass der Katholizität der Kirche durch zu viel Uniformität geschadet wird, war auch seine Überzeugung. Kurzzeitige Euphorie durfte nach seiner Überzeugung die entscheidende Aufgabe nicht verdrängen. Erreichte Fortschritte ökumenischer Verständigung sollten im Bewusstsein gehalten und weiterentwickelt werden. Differenzen fruchtbar zu machen war weit eher sein Weg als sie zu übertünchen oder zu übertönen.

Deshalb hatte er bei aller Enttäuschung Verständnis dafür, dass wir als evangelische Kirche einem vatikanischen Zustimmungsvorbehalt für gemeinsame ökumenische Bemühungen in der Bibelübersetzung nicht zustimmen konnten. Ob in den offenen ökumenischen Fragen, die vor allem mit dem Verständnis des kirchlichen Amts zusammenhängen, Fortschritte möglich seien, war ihm bis zum Ende fraglich. Denn das wäre ja nur denkbar, wenn Veränderungen im kirchlichen Amt auf allen beteiligten Seiten erreicht würden. Für seine Kirche machte er dafür mutige Vorschläge. Der Zugang von Frauen zum Amt des Diakonats und die Priesterweihe erfahrener verheirateter Männer gehörten zu diesen Vorschlägen.

„Steht fest im Glauben.“ Dieses biblische Wort war Karl Lehmanns Wahlspruch. Als er an seinem achtzigsten Geburtstag aus dem Bischofsamt ausschied, legte er ihn der im Mainzer Dom versammelten Gemeinde noch einmal aus. Er sah darin nicht nur eine Aufforderung an andere, sondern eine ständige Ermutigung an sich selbst. Er redete Menschen ihren Zweifel nicht aus; die Barmherzigkeit mit den Zweiflern war ihm vielmehr nahe. Er war ein großer Mensch und Christ, ein herausragender Bischof und Theologe. Und ein unvergesslicher Freund.

Wolfgang Huber war von 1994 bis 2009 Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und von 2003 bis 2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Wolfgang Huber

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