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Im Schmutzwasser. Der Weißwal taucht auch vor der Duisburger Kupferhütte auf.

© Stadtarchiv Duisburg

Moby Dick in Duisburg: Der Wal im Rhein

Der Beluga lebt im nördlichen Polarmeer. Dann die Sensation: Im Mai 1966 taucht ein vier Meter großes Exemplar im Rhein auf. Die Medien taufen es „Moby Dick“. Eine wochenlange Jagd beginnt.

Es dauert nicht lange, bis der leblose Körper entdeckt wird. Ein 18 Meter langer Kadaver ist auch kaum zu übersehen, schon gar nicht, wenn er wie an diesem Morgen im März 2016 mitten in Duisburg liegt, gestrandet auf einer Landzunge, dort, wo die Ruhr in den Rhein mündet. Bald kommen Schaulustige, später Forscher in weißen Schutzanzügen. Auf Twitter schreibt jemand: „Heute Morgen, Stromkilometer 781 vor Ruhrort: Pottwal gestrandet!“

Erst am Abend wird die Verwirrung aufgelöst. Denn der Wal ist nicht aus Fett, Fleisch und Blut, sondern aus Kunststoff und Aluminium. Die vermeintlichen Forscher sind belgische Aktionskünstler, die auf die Verschmutzung der Meere aufmerksam machen wollen. Der Ort dazu ist wohl überlegt. Denn wirklich überraschen würde es hier nicht, wenn sich tatsächlich ein Wal in den Rhein verirrte. Schließlich wäre es nicht das erste Mal.

Um dies zu verstehen, muss man 50 Jahre zurückgehen und drei Kilometer den Fluss hinauf: Es ist der Morgen des 18. Mai 1966. Zwei Rheinschiffer sind mit dem Tankschiff „Melani“ unterwegs, als bei Rheinkilometer 778,5 neben dem Boot etwas Weißes aus dem grauen Wasser auftaucht – drei, vielleicht vier Meter lang – und schnaubend Luft und Wasser ausstößt. Sofort funken sie die Wasserschutzpolizei an und melden: „Hier schwimmt ein weißes Ungeheuer im Rhein.“ Die Beamten glauben zunächst, die beiden Schiffer hätten am Abend vorher zu viel getankt. Sie bitten die Männer zum Alkoholtest. Negativ.

Dann sehen es die Polizisten selbst: ein weißer Rücken, zerfurcht von Narben und Striemen, taucht auf und stößt erneut seinen Blas aus. Vielleicht ein Wal, vermuten sie, aber wie kommt der in den Rhein? Drei Tage zuvor soll einer bei Rotterdam im Hafen gesichtet worden sein, dort an der Mündung kommt das schon mal vor. Aber hier, 450 Kilometer flussaufwärts? Sofort informieren sie das Innenministerium. Dort hält man den Anruf zunächst für einen Scherz und antwortet genervt: „Wer spricht da überhaupt?“

"Mann, is dit een Wurm"

Tags darauf wird Wolfgang Gewalt verständigt und per Polizeiboot herbeigeholt. Der Duisburger Zoodirektor erkennt sofort, dass es sich um einen Weißwal, einen Beluga, handelt. Bis zu sechs Meter können die Tiere messen und mehr als eine Tonne wiegen. „Mann“, sagt Gewalt, als er das knapp vier Meter lange und geschätzt 750 Kilogramm schwere Tier sieht, „is dit een Wurm.“

Wolfgang Gewalt ist erst seit anderthalb Monaten im Amt. Zuvor war er wissenschaftlicher Assistent im Berliner Zoo, wo er Aufsehen erregte, weil er zwei Gorillas per Hand aufzog und gerne auf wilde Krähen schoss. In Duisburg hat der 37-Jährige die Nachfolge des plötzlich verstorbenen Hans-Georg Thienemann angetreten. Der hatte im Jahr zuvor in Duisburg das erste Delfinarium Deutschlands erbaut und kurz darauf vier Große Tümmler importiert. Diese Delfinart zieht die Kinder seit Beginn der sechziger Jahre als Serienstar „Flipper“ vor die Fernseher und in ihren Bann.

Bei Delfinen soll es nicht bleiben, Gewalt plant schon ein neues, größeres Becken. Und hier vor seiner Nase schwimmt eine Sensation. Einen Beluga haben selbst unter seinen Zookollegen nur wenige zu sehen bekommen. Deshalb wäre es „grotesk, wenn der Duisburger Zoo einen vor der Haustür herumirrenden Wal sich selbst überließe und ein entsprechendes Exemplar aus Alaska herbeischaffte“, sagt Gewalt.

So beginnt die Jagd auf den Wal, der wegen seiner weißen Hautfarbe in Anlehnung an Herman Melvilles Roman-Ungeheuer „Moby Dick“ genannt wird. Aber weil es nun mal nicht alltäglich ist, dass ein Wal am Niederrhein auftaucht, muss Gewalt improvisieren. Aus Tennisnetzen eines benachbarten Tennisclubs und Zaunpfählen basteln der Zoodirektor und seine Helfer ein Fangnetz. Mit mehreren Booten versuchen sie, „Moby Dick“ ins Hafenbecken zu treiben, um ihn dort zu fangen. Doch alle Versuche misslingen. Immer wieder taucht der Wal unter den Netzen und Booten durch.

Die Haut des Tiers ist zu dick für die Betäubungspfeile

Ein Tierpfleger versucht mit Pfeil und Bogen, eine kleine orangegelbe Signalboje am Wal zu befestigen. Daraufhin mieten sich Umweltaktivisten einen Hubschrauber und werfen aus der Luft Apfelsinen ins Wasser, um die Jäger zu irritieren. Doch die sind sich sicher, das Richtige zu tun. In dieser Brühe, schätzen sie, überlebt der Wal keine acht Tage.

Denn während das Ruhrgebiet mit seiner Kohle und seinem Stahl das deutsche Wirtschaftswunder angetrieben hat, ist die Umwelt dabei auf der Strecke geblieben. Der Rhein ist zu einer Kloake verkommen, verseucht von Industrieabwässern; das Schwefeldioxid der Stahlwerke versengt die Obstbäume und Gemüsebeete in den Duisburger Kleingärten.

Bereits im Bundestagswahlkampf fünf Jahre zuvor hatte SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt die Umweltverschmutzung angeprangert und gefordert: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Anfangs wurde er dafür aus den eigenen Reihen mit „Kübeln voller Hohn“ übergossen, wie er selbst später notierte, weil er angeblich „das Blaue vom Himmel“ verspreche angesichts von 230 qualmenden Kraftwerken, Hochöfen und Raffinerien im Revier.

Auf Walfang. "Moby Dick" ist schwer zu fangen. Ein Gastwirt am Niederrhein wirbt scherzhaft: „Bei gelungenem Fang – Weißwalkotelett".
Auf Walfang. "Moby Dick" ist schwer zu fangen. Ein Gastwirt am Niederrhein wirbt scherzhaft: "Bei gelungenem Fang – Weißwalkotelett".

© dpa

Erst als das öffentliche Interesse wächst, nimmt sich auch die Adenauer-Regierung des Themas an. Trotz erster Gesetzesänderungen hat sich die Lage seitdem nicht verbessert. Manch einem kommt es nun im Mai 1966 wie biblische Vorsehung vor, dass das weiße, scheinbar unschuldige Wesen in den dreckigen Fluten aufgetaucht ist. Und ihm wird erst jetzt klar, wie vergiftet der Rhein längst ist.

Tausende Schaulustige säumen täglich dessen Ufer, um wenigstens einmal „Moby Dick“ zu sehen. „Bild“ schickt eigens einen Zeppelin los, um ihn aus der Luft zu filmen. Zoodirektor Gewalt versucht derweil vom Schiff aus mit einer Cap-Chur-Pistole, dem Wal das Betäubungsmittel Combelen unter die Haut zu schießen. Doch die Kanüle ist viel zu kurz, um die dicke Speckschicht zu durchdringen. An den Stammtischen werden bereits Wetten auf den Ausgang der Jagd abgeschlossen, und ein Gastwirt am Niederrhein wirbt scherzhaft: „Bei gelungenem Fang – Weißwalkotelett.“

Der Zoodirektor roch nach weiter Welt

Als „Moby Dick“ nach einem zweiten Treffer aus Gewalts Pistole plötzlich abtaucht und verschwunden bleibt, kippt die Stimmung. Die Rollen sind klar verteilt: Anders als in Melvilles Roman ist „Moby Dick“ der Gute und Dr. Gewalt, der Käpt’n Ahab vom Niederrhein, der Böse. Das Betäuben des Wals ist riskant, weil er zum Luftholen an die Oberfläche kommen muss. Viele befürchten, „Moby Dick“ sei ertrunken. Eine Boulevard-Zeitung fordert gar: „Verhaftet Dr. Gewalt!“

Berlins heutiger Zoodirektor Andreas Knieriem hat diese Pistole auch schon in der Hand gehalten. „Ich habe sie öfters reinigen müssen.“ Knieriem ist in Duisburg aufgewachsen und hat Ende der siebziger Jahre als Ferienpraktikant im Zoo angefangen. Gewalt, der stets in grüner Safari-Uniform durch seinen Zoo schreitet, beeindruckt den damals 13-Jährigen mächtig: „Er roch nach Leder, nach weiter Welt. Für mich war er der Inbegriff des Zoodirektors.“ Davon träumt er als Jugendlicher auch – und räumt weiter die Praxis des Zootierarztes auf. Gewalt ist aber nicht nur ein in der Fachwelt hoch angesehener Zoologe, sondern provoziert auch: „Er hat öfters mal rassistische Sprüche von sich gegeben“, erinnert sich Knieriem, „doch er schaffte es irgendwie immer wieder, dass es am Ende so wirkte, als sei es nur ein derber Scherz gewesen.“

Kritik prallt an Wolfgang Gewalt nicht nur ab, er scheint sie sogar zu genießen, gefällt sich in der Rolle des Underdogs. Immer gegen den Strom. Die Schlagzeilen – die guten wie die, in denen sein Kopf gefordert wird – säumen die Wände seiner Wohnung. Vorerst legt er jedoch eine Jagdpause ein – damit das Tier seinen „Glauben an die Menschheit“ wiedergewinne, wie er im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erklärt. Warum „Moby Dick“ überhaupt im Rhein aufgetaucht ist, kann er sich nur mit einem „Knacks“ erklären: „Es ist ja nicht normal, dass ein Wal ins Binnenland schwimmt.“ Auch die „Süddeutsche Zeitung“ fragt einen Tag später auf ihrer ersten Seite: „Warum ist es für einen Wal im Rhein so schön?“

Der Wal hat braune Flecken - wegen der Wasserverschmutzung

In den nordpolaren Gewässern ihrer Heimat versammeln sich Belugas zur Paarung in Flussdeltas. Mitunter schwimmen sie auch kilometerweit die Flüsse bergauf. Obwohl es in der Nordsee keine Belugas gibt, sollen in der Vergangenheit vereinzelt Tiere in der Loire oder Elbe gesichtet worden sein. Eine Flugschrift aus dem Jahre 1689 meldet, dass im Rhein ein „wunderliches Wasser-Thier“ aufgetaucht und mit „grossem Gebrüll und Brautzen“ bis Basel geschwommen sei.

„Moby Dicks“ Odyssee hat höchstwahrscheinlich viel früher begonnen – und zwar an der Ostküste Kanadas. Anfang 1966 war dort ein junger Beluga bei Ebbe in eine flache Bucht geraten und gefangen worden. Er sollte per Schiff in einen englischen Zoo gebracht werden, doch kurz vor dem Ziel geriet der Frachter in einen schweren Sturm. Eine Welle spülte den Wal über Bord in die Nordsee. Danach verlor sich seine Spur, bis wenige Monate später der Beluga im Rhein auftauchte.

Vergebliche Versuche. Duisburgs Berliner Zoodirektor Wolfgang Gewalt will das Tier für sein Delfinarium fangen.
Vergebliche Versuche. Duisburgs Berliner Zoodirektor Wolfgang Gewalt will das Tier für sein Delfinarium fangen.

© Stadtarchiv Duisburg

Der soll mittlerweile wieder in Holland gesichtet worden sein, wo man ihn „Willi de Waal“ nennt und er nicht gejagt werden darf. Frits den Herder, der Begründer des Dolfinarium Harderwijk, dem ersten Europas, schimpft in der Presse über die „barbarischen Fangmethoden“ in Deutschland. Doch diese haben kaum Spuren bei „Moby Dick“ hinterlassen. Nur auf seiner Haut haben sich bräunliche Flecken gebildet – als Folge der starken Wasserverschmutzung. In Holland versucht man, den Wal zurück ins Meer zu eskortieren, doch der schwimmt in die eingedeichte Sackgasse Ijsselmeer. Extra für ihn wird eine Schleuse geöffnet, aber auch die verpasst er, kehrt wieder um in Richtung Deutschland, wo bereits Dr. Gewalt und Tausende an den Rheinufern auf ihn warten.

Bernhard Grzimek, der Tiervater der Nation, schreibt Ende Mai im „Spiegel“: „Um diesen einen Beluga sorgen sich Hunderttausende. Daß die Norweger dieselben Weißwale vor Spitzbergen so gut wie ausgerottet haben, und zwar in recht blutiger, grausamer Weise, kümmert niemanden, denn Spitzbergen ist ja weit weg.“ In einem persönlichen Brief an Gewalt meldet er Zweifel an dessen Absichten an, da das Duisburger Delfinarium - ein zehn mal zehn Meter großes und drei Meter tiefes Betonbecken – zu klein sei.

Menschen werfen Butterbrote und Rollmöpse ins Wasser

Selbst die Politik macht den Wal zum Thema im Landtags-Wahlkampf: Während die CDU fordert, ihn in Ruhe zu lassen, spricht sich die SPD dafür aus, ihn zurück ins Meer zu bringen. Anfang Juni rechtfertigt sich Gewalt in der „Zeit“: „Würde sich eines Tages eine Giraffe in den Duisburger Wald verlaufen, dann würden wir auch sie zu fangen trachten“, da sie nicht zurück in die Steppe fände und „in unserem Gehege, inmitten von Artgenossen, hervorragend aufgehoben wäre.“ Unterdessen lässt „Moby Dick“ Dr. Gewalt und Duisburg sowie Düsseldorf und Köln hinter sich. Schwimmt immer weiter. Gegen den Strom.

Am Vormittag des 13. Juni ist der Plenarsaal der Bonner Bundespressekonferenz bis auf den letzten Platz besetzt - es geht um Nato-Fragen. Plötzlich eilt ein Mann in den Saal, direkt auf Regierungssprecher Karl-Günther von Hase zu und flüstert ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser verkündet, dass „Moby Dick“ vor dem Bundeshaus aufgetaucht sei. Plötzlich ist die Weltpolitik weit weg. Ob Politiker oder Journalisten – alles drängt nach draußen. Am Ufer werfen die Menschen Butterbrote und Rollmöpse ins Wasser, die er aber verschmäht.

Er zeigt noch einmal seinen fleckigen, vernarbten Rücken und schwimmt weiter bis nach Remagen. Bald 600 Kilometer ist er da bereits flussaufwärts gezogen, fast den halben Rhein hat er hinter sich gelassen, als er kehrtmacht und die gesamte Strecke wieder zurückschwimmt. Auch sein Jäger Gewalt lässt ihn diesmal vorbeiziehen. Eine Nacht verbringt der Beluga noch in einem Baggerloch bei Wesel, bis er schließlich am 15. Juni die Grenze passiert. Auf den letzten Kilometern Richtung Rheinmündung begleiten ihn zwei Dienstwagen der niederländischen Polizei. Am Abend des 16. Juni gegen 20 vor sieben wird „Moby Dick“, der Weißwal, der ganz Deutschland einen Monat lang in seinen Bann gezogen hat, zum letzten Mal bei Rotterdam gesichtet, bevor er in die Nordsee abtaucht und für immer verschwindet.

Es wird noch bis in die achtziger Jahre dauern, bis sich der verseuchte Rhein wieder erholt hat. Naturschutz ist zu dieser Zeit längst kein politisches Nischenthema mehr, aus den vereinzelten Umweltschützern ist eine Bewegung geworden und daraus mit den „Grünen“ eine eigene Partei entstanden. So lange wird auch Gewalt Delfine und Belugas für seinen Zoo jagen. Bis in die kanadische Hudson Bay und nach Kap Hoorn werden ihn seine Expeditionen führen, von denen er mehr als 20 Tiere nach Duisburg mitbringt. 2004 verlässt der letzte Weißwal den Duisburger Zoo. Wolfgang Gewalt stirbt 2007 mit 78 Jahren.

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