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Clarence Louie, Indianerhäuptling aus Kanada.

© Mike Wolff

Clarence Louie, Häuptling der Osoyoo: „Hippies sind Weiße mit Indianerkrempel“

Der Vater wurde in der Schule noch geschlagen, wenn er seine Sprache nutzte. Clarence Louie über die Erfolge seines Stammes, Blutsbrüder und Schwitzhütten.

Von Barbara Nolte

Clarence Louie, 55 ist Häuptling eines Indianerstammes in Kanada. Die Osoyoos zählen nur 500 Mitglieder, sind aber wirtschaftlich sehr erfolgreich. Sie betreiben neun Firmen, darunter ein Weingut. 200t wurde Louie Präsident des nationalen Rates für Wirtschaftsentwicklung der kanadischen Ureinwohner.

Herr Louie, in Ordnung, wenn ich Sie als Indianer bezeichne?

Nur zu!

Offiziell heißen in Kanada die indianischen Stämme First Nations. Hat das Wort Indianer einen rassistischen Beiklang?

Nein. Es ist nur mitunter verwirrend, weil wir im Englischen dasselbe Wort für Indianer und für Inder verwenden. In unserer Gegend arbeiten viele Immigranten aus dem Pandschab in der Landwirtschaft. Manchmal lese ich in der Zeitung etwas über einen „Indian“, und gemeint ist ein Inder.

Sie sind seit den 80er Jahren der Häuptling des Osoyoos- Stammes, dem rund 500 Menschen angehören. Haben Sie das Amt von Ihren Vorfahren geerbt?

Oh, nein. Ich muss mich alle zwei Jahre zur Wiederwahl stellen.

Was sind Ihre Aufgaben?

Bildung, Gesundheitsversorgung und Wirtschaft im Reservat. Meine Mitarbeiter und ich stellen beispielsweise 400 000 Dollar zur Verfügung, um unsere Kinder auf weiterführende Schulen zu schicken. Außerdem legen wir Geld beiseite, um unsere Alten zu beerdigen. Betreuung sozusagen von der Wiege bis zur Bahre.

Sind Sie auch eine Art Seelsorger?

Nicht im religiösen Sinne. Um 1800 waren bereits französische Missionare in unserer Gegend unterwegs. Viele unserer Leute sind christianisiert.

Sie auch?

Ich bin getauft. In unserem Reservat gibt es nur noch eine Handvoll Kirchgänger. Meine Mutter gehört dazu. Viele kehren zu unseren alten religiösen Traditionen zurück. Sie gehen in Schwitzhütten und besuchen Sonnentänze. Ich würde mich selbst als spirituell, aber nicht als religiös bezeichnen. Der Punkt ist doch: Jede Religion, ob indianisch oder nicht, ist von Menschen gemacht. Wenn jemand, der traditioneller drauf ist, mich auffordert, im Namen der Religion dieses oder jenes zu tun, denke ich: „Irgendein Mensch hat sich diese Gesetze ausgedacht.“

Auf Fotos, die im Internet kursieren, tragen Sie den typischen Kopfschmuck der Indianer.

Nur zu feierlichen Anlässen.

Zum Beispiel?

Hin und wieder setze ich ihn mir bei meiner Motorradtour zum Wounded Knee auf, die ich jedes Jahr unternehme. Am Wounded Knee metzelten im Jahre 1890 US-Kavallerieregimenter Männer, Frauen und Kinder vom Stamm der Lakota nieder. Ich habe auch erwogen, den Kopfschmuck auf meine Europareise mitzunehmen, aber ich besitze kein robustes Behältnis, in das er passt. Am Ende wären mir noch die Adlerfedern abgeknickt.

Wurde dieses Häuptlingsornat von Ihrem Vorgänger an Sie weitergegeben?

Es gehört mir privat. Bei uns im Reservat suchen wir zurzeit die Federhauben von unseren Häuptlingen aus den 50er und 60er Jahren. Wir würden sie gerne in unserem Kulturzentrum ausstellen, aber wir wissen nicht, wo sie abgeblieben sind.

Ist so ein Kopfschmuck teuer?

Nun ja, Adlerfedern sind selten. Man kann nicht einfach Adler töten. Wenn einer umkommt, etwa weil er in eine Hochspannungsleitung geriet, gibt uns die Umweltschutzbehörde seine Federn.

Wer fertigte Ihren Federschmuck an?

Ein Bekannter von einem befreundeten Stamm.

Kopfschmuckknüpfen ist bei Ihnen Männerarbeit?

Das kann ich so pauschal nicht sagen. Wir wissen leider nicht mehr viel über unsere Traditionen. Unser kulturelles Gedächtnis wurde in den Missionsinternaten, in die indianische Kinder bis in die 70er Jahre hinein zwangsverschickt wurden, aus uns herausgeprügelt. Priester und Nonnen dort schlugen die Schüler mit dem Lineal, bloß weil die sich in ihrer Muttersprache unterhielten. Wenn diese Kinder in die Reservate zurückkamen, vermieden sie ihre Sprache, damit ihre Kinder sie nicht lernten und später ebenfalls dafür bestraft würden. Kürzlich hat der Oberste Gerichtshof Kanadas anerkannt, dass es einen kulturellen Genozid an uns Ureinwohnern gab. Genau das ist der Fall, auch wenn der Premierminister das Wort nicht benutzt. Aber man muss derart gravierende Tatsachen benennen. Wie heißt noch mal das Ding dort hinten neben dem Brandenburger Tor für die Juden?

Meinen Sie das Holocaust-Mahnmal?

Ja. Gut, dass so etwas mitten in der Stadt steht.

"Meine Eltern trennten sich. Das kommt häufig vor in indianischen Familien"

Clarence Louie, Indianerhäuptling aus Kanada.
Clarence Louie, Indianerhäuptling aus Kanada.

© Mike Wolff

Besuchten Ihre Eltern ein solches Internat?

Mein Vater.

Was hat er Ihnen davon erzählt?

Nichts, weil ich ohne ihn aufgewachsen bin. Meine Eltern trennten sich. Das kommt häufig vor in indianischen Familien, überhaupt bei armen Leuten. Sozialhilfe zu beziehen, ist unwürdig, besonders für die Männer, denn bei uns wird von ihnen erwartet, für ihre Familie zu sorgen. Ich bin überzeugt, das ist in Deutschland nicht anders. Und wenn Männer dabei versagen, wenden sich viele dem Alkohol, den Drogen, dem Verbrechen zu.

Sie selbst schafften es an eine Universität.

Als Teenager half ich im Sommer in den Weinbergen mit. Bei 35 Grad im Schatten, aber nirgends war Schatten. Ein Job, den man kein Leben lang machen will. Also zog ich weg aus unserer Heimat in British Columbia. In Regina, Saskatchewan, studierte ich Native American Studies, weil ich wissen wollte, wie die Ureinwohner in die Situation geraten waren, in der sie sich befanden.

Und warum sind Nordamerikas Ureinwohner derart unterprivilegiert?

Es ist das Ergebnis der Kolonialisierung, die fast überall auf der Welt ähnlich ablief. Wenn Kolonialmächte eine Insel eroberten, töteten sie meist die Eingeborenen. Und wenn sie welche am Leben ließen, zivilisierten sie sie, wie es beschönigend hieß. Sie unterbanden, dass sie sich weiter selbst versorgen konnten. Dann oktroyierten sie ihnen ihre Religion und ihre Sprache auf. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die sie uns nahmen, müssen wir als Erstes wiedererlangen. Egal, was man ist: Ureinwohner oder, wie ich gerade in den Nachrichten gehört habe, Grieche – wenn die Wirtschaft schlecht läuft, hat man Probleme.

In Ihrem Reservat haben Sie Schilder anbringen lassen: „Ein echter Krieger sorgt finanziell für sich.“

Die Schilder sind als Motivation gemeint. Hundert Jahre erzwungener Abhängigkeit haben unsere Tradition von harter Arbeit und Unabhängigkeit gebrochen.

Sie sprechen Ihre Leute als „echte Krieger“ an.

Ich meine mit Krieger nur jemanden, der sich beruflich anstrengt. Ich bin selbst zum Teil mit Sozialhilfe aufwachsen. Sie sollte eine Art Brücke sein, auf der jemand zurück in die Arbeitswelt gelangen kann, aber kein Lebensentwurf.

Was bedeutet Ihrer Ansicht nach Arbeit für Menschen? Ist es ein Bedürfnis? Oder eine Notwendigkeit, um ein Einkommen zu erzielen?

Arbeit ist ein großer Teil unserer Identität. Wenn man jemanden trifft, fragt man zuerst nach dem Namen. Und was will man als Nächstes wissen? Was derjenige arbeitet!

Ist das auch so unter Indianern? Die Fixierung auf Arbeit gilt als typisch deutsch.

Das ist in Kanada und den USA genauso. Der Minister für Eingeborenenangelegenheiten nannte mir kürzlich ein Zitat eines Franzosen: „Die beste Methode, einen Menschen umzubringen, ist, ihn vom Arbeiten abzuhalten.“ Das glaube ich auch. Als man die Reservate einführte, wurde den Menschen dort ausdrücklich verboten, ihre Familien zu ernähren.

Ihre Leute jagen und fischen immer noch.

Ja. Nur reicht das nicht, um die Stromrechnung zu bezahlen. Unsere Leute gehen in Supermärkte. Jagen ist mehr so ein kulturelles Ding.

Indianer gelten als Ikonen der Umweltbewegung. Es heißt: Sie schossen nur so viele Büffel, wie sie brauchten. Sind Ihre Leute wirklich so maßvoll?

Der Spruch stimmt so nicht. Schon bevor die Europäer kamen, fingen wir mehr Lachs, als wir selbst verbrauchten, und handelten damit mit anderen Stämmen, die keinen Lachs hatten.

Ein sehr bekannter Öko-Slogan fußt angeblich auf einer indianischen Weisheit: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“

Den kenne ich von Postern. Was ich an dem Spruch nicht mag, ist, dass er sich so anhört, als wäre Geld nicht wichtig. Es ist für uns alle wichtig. Umweltschützer lieben beispielsweise ihre Laptops. Dafür braucht man Strom. Klar, es muss Umweltstandards geben. Nur muss man sich im Klaren darüber sein, dass sie den Preis von Waren in die Höhe treiben.

Dass unter Indianern der Naturschutz nicht immer vorrangig ist, zeigt der Fall der Southern Ute. Der Stamm verklagt gerade das US-Innenministerium, das die Auflagen für Fracking verschärft hat. Die Southern Ute wollen in ihrem Reservat weiter Erdgas auf diese umstrittene Weise fördern.

"Man kann in einer Stadt keine Million Lagerfeuer entfachen"

Clarence Louie, Indianerhäuptling aus Kanada.
Clarence Louie, Indianerhäuptling aus Kanada.

© Mike Wolff

An der kanadischen Ostküste lieferten sich Mitglieder anderer Stämme Gefechte mit Ordnungshütern, weil sie Fracking verhindern wollten. Wir Indianer denken nicht alle gleich.

Der berühmte Apachen-Häuptling Wendell Chino wollte in den 90er Jahren sogar ein Atommüllzwischenlager auf seinem Territorium bauen lassen.

Atommüll muss ja irgendwo gelagert werden. Der Fortschritt lässt sich nicht umkehren. Man kann in einer Stadt keine Million Lagerfeuer entfachen. Dann würden sich die Menschen zu Recht über Atemprobleme beschweren.

Wendell Chino wird auch mit folgendem Satz zitiert: „Die Zuni machen Schmuck, die Navajo Wolldecken, die Apachen Geld.“

Wir Eingeborenen brauchen Geld wie alle anderen auch. Geld eröffnet Lebenschancen. Die ursprünglichen Beziehungen zwischen uns und den Neuankömmlingen waren Handelsbeziehungen: zwischen der Hudson Bay Company und den indianischen Pelzhändlern. Ich sage häufig den anderen Häuptlingen, dass wir zu einer Geschäftsbeziehung zurückkehren müssen. Weg vom Abhängigkeitsverhältnis, das uns die Kolonialmächte aufgezwungen haben. Heute spielen Nicht-Eingeborene auf unserem Golfplatz, sie wohnen in unserem Hotel, trinken unseren Wein. Die meisten Reservate haben mehr Arbeitslose als Arbeitende. Wir dagegen haben mittlerweile 80 Prozent unserer Leute in Arbeit. Deshalb liebe ich es, mit Geschäftsleuten zusammen zu sein.

In Zeitungen werden Indianer mitunter auch „Präriehippies“ genannt. Sie sehen sich nicht als Hippie.

Hippies sind Weiße, die Indianerkrempel tragen.

In Deutschland wird die Vorstellung von Indianern durch ein Heldenepos aus dem 19. Jahrhundert um einen Häuptling namens Winnetou geprägt.

Ich habe davon gehört. Meine Frau arbeitete in unserem Kulturzentrum. Die meisten Besucher dort waren deutsch. Und gestern rief mich eine Bekannte an, die berichtete, dass sie in der Prärie bei einem Sonnentanz war, einer rituellen Zeremonie. Dort seien mehr Deutsche als Indianer gewesen.

Indianische Schwitzhütten kennt man in Deutschland als Selbsterfahrungsritual: Sie werden mit einem glühenden Stein erhitzt. Man sitzt nackt darin und singt. Entspricht das Ihrer Tradition?

In meinem Stamm besucht man sie nach Geschlechtern getrennt. Männer tragen Sportshorts und Frauen, glaube ich, T-Shirts.

Sie sagten mal: „Der ganze New-Age-Bullshit funktioniert nicht für First-Nation-People.“

Das war bei einem Gefängnisbesuch. Ich bin oft in Gefängnissen. Dort stellen Ureinwohner ein Viertel der Insassen, obwohl wir nur drei Prozent der kanadischen Bevölkerung ausmachen. Damals fragte ich zuerst das Gefängnispersonal, was für Berufe die Männer hätten, die einsaßen. Sie hatten keine Berufe. Deshalb waren sie ja in die Probleme hineingeraten. Dann fragte ich, was es für Programme für die Insassen gäbe. Die Antwort war: „Schwitzhütten, sieben Tage in der Woche.“ Ich habe nichts gegen religiöse Bräuche, aber das kann nicht alles sein. Die Männer brauchen eine berufliche Qualifizierung. Das gilt selbst für Nicht-Eingeborene: Man kann so religiös sein, wie man will. Doch wenn man nicht gerade Priester oder Mönch ist, muss man trotzdem mit einem Job sein Geld verdienen.

Für Geld lassen Sie jetzt sogar den kanadischen Staat in Ihrem Reservat ein Gefängnis bauen.

Wir haben darüber abgestimmt. Die Mehrheit meines Stammes war dafür. Beim Betrieb des Gefängnisses werden nicht nur viele meiner Leute Arbeit finden: 250 feste Stellen, die Steuern bringen, die wir für Bildung und Kultur ausgeben können.

Ihr Stamm erwirtschaftet jährlich mehrere Millionen Dollar. Teilen Sie den Betrag durch die Anzahl Ihrer Stammesmitglieder?

Nein, man kann nicht seine ganzen Gewinne ausgeben, sonst hat man im nächsten Jahr nichts mehr, mit dem man operieren kann. Wir schütten 15 Prozent der Gewinne aus. Ungefähr 1200 Dollar gibt es für jeden in der Weihnachtszeit.

Wie beurteilen Sie die Situation der Eingeborenen in Kanada zurzeit?

Es ist besser geworden. Wir sitzen in Chefetagen von Öl- und Minenunternehmen. Die sagten nicht: „Kommt rein!“ Wir haben uns das erzwungen.

Spüren Sie noch Rassismus?

Klar. Aber Rassismus perlte schon immer an mir ab. Mich interessieren nur die Ansichten von Menschen, die ich mag und respektiere.

Indianer sind teils selbst Rassisten. In den USA schließen Stämme Mitglieder aus, wenn sie ihre Herkunft nicht eindeutig beweisen können.

Ich kenne in Kanada nur den Fall der Mohawks bei Montreal. Deren Reservat ist so klein, sie haben einfach keinen Platz mehr. Immer wenn künftig ein Mohawk einen Nicht-Eingeborenen heiratet, soll er das Reservat verlassen. Das Vorgehen basiert auf einer demokratischen Entscheidung. Die Mehrheit hat das so beschlossen.

Karl May hat in seinen Büchern die ewige Freundschaft zwischen Indianern und Weißen beschworen, die mit einem Ritual der Blutsbrüderschaft besiegelt wurde.

Dass man sich selbst schneidet und die Pulsadern aneinander hält? Das habe ich noch nie erlebt. Das gibt es nur in alten Western.

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